Zukunft des Lokalen

Nähe hat Zukunft

von

Lokaljournalismus, eine aussterbende Spezies? Mitnichten! Regionaler und lokaler Journalismus sind Kulturtechniken mit wachsender Bedeutung. Von Prof. Bodo Hombach

Vorab ein Quantum Trost: „Vielleicht haben wir es mit einer Art Hysterisierungsschleife zu tun. Die Medien machen aus Pseudo- oder Nullinformationen Nachrichten. Die Abnehmer steigern gelegentliche Fehlleistungen zum Generalverdacht. Und das Internet wirkt mit all seinen Verschwörungsforen als Hysterieverstärker. Zum Glück aber beziehen die meisten Deutschen ihre Informationen nach wie vor aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den etablierten Zeitungen.“ (Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer, März 2015 im Kölner Stadt-Anzeiger)

Es war einmal, da war der Zeitungskiosk Meetingpoint für das tägliche Rendezvous mit der Welt: Rasche Versorgung mit Informationen, Unterhaltung und Service, auch für den kleinen Hunger zwischendurch, an der Bushaltestelle, im Wartesaal, am Frühstückstisch, das schnelle Finden in vertrauten Rubriken, das Nahe und das Ferne, das Bunte und das Umfassende, das Vorgeklärte, Durchdachte, zuweilen das Vertiefte und natürlich das Enthüllende, und all das ohne Steckdose oder Akku, ohne Passwort und Systemabsturz. Eine gute Zeitung war ein „Schnäppchen“, das man für ein paar Münzen ergattern konnte.

Aber plötzlich stand die seltsame Frage im Raum: „Wie lange wird es das noch geben?“ Bill Gates prophezeite das Ende der Zeitung für das Jahr 2000. Er verschätzte sich wie schon so mancher Apokalyptiker. Das Neue macht blind, und Totgesagtes hat oft eine erstaunliche Vitalität. Trotzdem: Wer vom Wolkenkratzer stürzt, könnte 150 Stockwerke lang meinen, es sei doch alles in Ordnung.

Ein flüchtiges Phänomen waren Zeitungen schon immer, denn das war ihre Natur. Der Inhalt wechselte täglich. Die sensationellen Themen und Ereignisse von heute waren der Schnee von morgen. Auch der Materialwert war gering. Man faltete das Ding zusammen und stopfte es in die Manteltasche. Zeitungen – auch solche mit donnernder Schlagzeile - stapelten sich gefährlich nahe am Kamin. Und nun ist digitale Revolution, Internet, Globalisierung. Es herrschen Diversifizierung, Umbruch, Goldrausch und schöne neue Welt. Wer genauer hinsieht, entdeckt merkwürdige Paradoxien: Grenzenlose Ubiquität ereignet sich in den privatesten vier Wänden. Geschichtslose Modernität kollidiert rücksichtslos mit archaischen Kulturstufen. Komplexe Technik dient ungerührt den klügsten Erkenntnissen und den dümmsten Albernheiten. Ereignis, Bericht und Kommentar fallen quasi zeit- und widerstandslos zusammen. Unbegrenzte Speicher beseitigen die menschlichste unserer Eigenschaften: das Vergessen. Die Vernetzung aller mit jedem erzeugt neben großen Chancen der Verständigung eine nicht minder große Springflut von Missverständnissen und Verletzungen.

Das klingt noch nicht wie die Lösung aller Probleme. Es ist eher ein Bündel neuer Spannungen und Irritationen. Noch weiß niemand, ob sie sich klären und wie wir damit leben werden. Vor dem Übermaß an Informationen fehlt es an Maßstäben und kategorisiertem Wissen, um Relevantes vom Nichtigen zu unterscheiden. In der zerfallenen Masse der Meinungen und Befindlichkeiten sucht man nach Persönlichkeiten von Weit- und Durchblick, mit denen die Auseinandersetzung lohnt. Allein gelassen hat es der Einzelne immer schwerer, aus dem chaotisch-anarchischen Angebot medialer Signale ein stimmiges Bild der Welt zu gewinnen, ohne das er seine eigene Identität nicht empfinden und entwickeln kann. Grenzenlose Weite überlagert das Nahe. Der allgemeine Globalisierungsrausch scheint das Regionale und Lokale für immer zu entwerten. Man könnte sich täuschen. Vielleicht ist das Gegenteil richtiger. Schwindende Ressourcen wachsen im Wert. Die meisten Grenzen, an denen wir scheitern, sind Kopfgeburten. Wir haben sie uns selbst gezogen. Vielleicht ist auch die Fiktion totaler Grenzenlosigkeit eine solche. Sechs elementare Gründe könnten dafür sprechen:

  • Sozialhistoriker verweisen auf eine interessante Konstante. Unser Lebensraum ist in der Regel etwa so groß, wie wir ihn mit dem jeweils gebräuchlichsten Fortbewegungsmittel in einer Stunde durchqueren können. Aufmerksamkeit und Teilhabe betreffen nur zu geschätzten fünf Prozent den supranationalen Sektor, zu vielleicht 15 Prozent den nationalen, zu 80 Prozent jedoch den regionalen Bereich. Nur hier verbringen wir den schmalen Zeitspalt unseres Lebens. Hier kennen wir uns aus und fühlen uns „daheim“. Die Leute akzeptieren die europäische und erst recht die globale Entwicklung nur, wenn ihnen die regionale Verwurzelung erhalten bleibt und sie hier sogar eine gewisse Kauzigkeit kultivieren dürfen.
  • Alle Großstrukturen der Gesellschaft – Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, erleben schwere Einbrüche. Der kostbare Rohstoff „Vertrauen“ wurde leichtfertig verschleudert, aber: „Ohne Vertrauen würde niemand morgens aufstehen.“ (Niklas Luhmann, 1968). Schritt und Sprung brauchen aber einen sicheren Boden. Neue Verlässlichkeit entsteht nicht durch theoretische Zusagen, sondern durch konkrete Erfahrung, und diese ereignet sich nicht im Taumelflug durch kosmische Weiten, sondern im persönlichen Kontakt.
  • Die Finanz-, Wirtschafts-, Schulden- und Eurokrise, aber auch Umwelt- und Lebensmittelskandale schüren das Misstrauen in die Weisheit globaler Steuerung durch anonyme und demokratisch nicht legitimierte Mächte. Wer nicht einfach nur die Hacken in den Sand stemmt, hat ein starkes Bedürfnis nach Teilhabe im überschaubaren Bereich.
  • Die Argumentationsarmut und Entscheidungsphobie der Politik weckt Bewegungen und Gruppen, die konkrete Ziele formulieren und sie vor Ort realisieren wollen.
  • Die digitale Revolution erlaubt eine Individualisierung der Produktionsverhältnisse. Das Internet der Dinge ermöglicht die Herstellung des angepassten Einzelprodukts zum gleichen Preis wie früher nur die Massenware. Angesichts gesättigter Märkte, zunehmend schwieriger Rohstoffversorgung und einer nicht beliebig erweiterbaren Lebenszeit der Konsumenten kann „Wachstum“ nicht mehr nur Masse bedeuten.
  • Das Bundesverfassungsgericht stellte in zahlreichen Urteilen klar: „Die gesamtstaatliche Meinungs- und Willensbildung vollzieht sich vom Souverän in Richtung auf die Staatsorgane hin und nicht in umgekehrter Richtung.“

Vor solchen Trends und Gegebenheiten ist regionaler und lokaler Journalismus keine aussterbende Spezies, sondern eine Kulturtechnik mit wachsender Bedeutung. Wenn er sich nicht unter Wert verkauft, wird er zum aufmerksamen Begleiter der Leute in ihrer unmittelbaren Lebensumgebung. Er setzt nicht panisch auf Breite (flach) und Tempo (flüchtig). Er kann das Nahe und Konkrete mit Sorgfalt und Kontinuität beobachten, und seine Leser können das Ergebnis anhand eigener Primärerfahrungen überprüfen. Ökonomischer Druck mag die Verlage zwingen, die Mantelteile ihrer Blätter zusammenzulegen. Beim Lokalteil ist das ohne Totalverlust nicht möglich.

Wird sich das aber rechnen? Der klassische Zeitungsmarkt ist kein Selbstläufer mehr. Früher sagte man einem wütenden Leser „Dann gehen Sie doch zur Konkurrenz!“ Heute greift man zum Bußgewand und sagt „Bitte, geben Sie uns noch einmal eine Chance!“ Angesichts sinkender Abonnentenzahlen und Anzeigen sind Zweifel erlaubt, nicht jedoch Panik. Wenn der Bedarf existiert und sogar noch wächst, wird sich der Markt umstrukturieren, aber nicht verschließen. In den USA gibt es schon Online-Zeitungen, die sich als gemeinnütziger Verein organisieren. Qualität hat ihren Preis. Auf lange Sicht ist sie das bessere Geschäftsmodell. Wer bis Drei zählen kann, wird nicht im infantilen Gratis- und Schnäppchenverhalten des Internets verharren. Er wird von diesem wichtigen Werkzeug mehr erwarten als einen mit Werbung zugeschütteten Rummelplatz. Und dann geht es nicht ohne professionelle Standards, die ihres Lohnes wert sind.

„Jede Zeit ist eine Übergangszeit. Das ist der flachste aller Gemeinplätze.“ (Kurt Tucholsky). Die Ausfaltung technischer und logistischer Möglichkeiten schreckt nur solche Journalisten, die noch nicht erkannt haben, was die Medienhersteller aller Zeiten lernen mussten: Sie produzieren keine Gefäße, sondern Inhalte. Diese entscheiden alles. Sie suchen sich den Weg und das Gerät, die beim aktuellen Stand der Technik als geeignet erscheinen. Die Nutzer treffen die Auswahl und vergeben den Preis. Es ist ein Wanderpokal.

Zur Person

Prof. Bodo Hombach ist Präsident der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn sowie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, stellvertretender Vorsitzender der Brost Stiftung. Er war unter anderem Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes und Geschäftsführer der WAZ Mediengruppe.

Kontakt

Brost-Stiftung
Thomas Hüser
Kommunikation
Zeißbogen 28
45133 Essen
Tel.: 0201.3162848
Fax.: 0201.3162868
E-Mail: thomas.hueser@broststiftung.org

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