Debatte

Mit mehreren Bällen jonglieren

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WP-Digitaltag in der WP-Arena: Einen Tag lang stellte die Redaktion in einem Streaming-Format ihre Arbeit vor.
WP-Digitaltag in der WP-Arena: Einen Tag lang stellte die Redaktion in einem Streaming-Format ihre Arbeit vor.

Digitale Transformation, Diversität in den Redaktionen, neue Zielgruppenansprache: Lokaljournalismus muss viele Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Eine Antwort auf Michael Husarek und Marc Rath.

Es gibt zwei Dinge, die ich an den Diskussionen über die Zukunft des Lokaljournalismus auffällig finde:

  • 1. Überlegungen zu der Frage, was Redaktionen jetzt – im Jahr 2021 – unbedingt mal tun müssten und bislang leider nicht getan haben.
  • 2. Enttäuschung darüber, dass die Menschen in der Corona-Zeit nicht ausreichend gemerkt haben, wie wichtig wir sind. Komisch.

Warum? Wer nicht bereits deutlich vor Corona auf allen Ebenen die Ärmel hochgekrempelt hat, war zu Beginn der Pandemie spät dran. Vermutlich zu spät. Redaktionen, die im März 2020 (!) noch dem Terminjournalismus verhaftet waren, mussten nun den Umfang ihrer Berichterstattung einschränken. Egal, auf welchem Kanal. Es war ja nichts mehr los. Die Abo-Gebühren blieben unverändert. Von Preiserhöhungen mal abgesehen. Treue Print-Leserinnen und -Leser zahlen heute über 40 Euro im Monat.

Wer zu Beginn von Corona noch nicht in der digitalen Transformation angekommen war, hatte nun auch online keine passenden Inhalte zum richtigen Zeitpunkt des Tages für die unterschiedlichen Zielgruppen parat. Nutzer sind wie scheue Rehe. Ihre Aufmerksamkeit erlahmt schnell, wenn wir sie nicht jeden Tag aufs Neue finden und überzeugen. Das schlägt sich dann in der Churn-Rate nieder, der Furcht einflößenden Abgangsquote. Nach vier Wochen ist über die Hälfte schon wieder weg. Ich zitiere ein Mitglied aus meiner Familie im Alter von Anfang 20: „Ich kann mir vorstellen, die Legacy-Medien und auch den lokalen Handel zu unterstützen. Aber nicht aus Mitleid.“ Es geht um Leistung.

Dann wäre da noch die Sache mit dem Personal. Das ist zunehmend schwer zu bekommen und auch noch anspruchsvoll. „Irgendetwas mit Medien“ lockt längst niemanden mehr hinterm Ofen vor. Heute sind attraktive Arbeitgeber solche, die selbstverständlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, der Lebensphase entsprechende Karriereoptionen anbieten und natürlich Diversität berücksichtigen. Divers ist die Gesellschaft, über die wir berichten. Unsere Redaktionen sollten es auch sein. Ein Punkt fehlt noch: So langsam wie bis März 2020 wird die Veränderung unserer Welt in den nächsten Jahren wohl nicht mehr ablaufen.

Wie man auf all das schaut, ist wohl eine Frage der Perspektive. Ich mache es mir leicht und sehe die Gegenwart als Sternstunde des Lokaljournalismus, übrigens auch des Lokalsports. Meine Kolleginnen und Kollegen dürfen es von mir erwarten. Ich bin froh, dass viele andere in unserer Branche diesen Blickwinkel teilen. Angesichts der Themen ist es notwendig, mit mehreren Bällen gleichzeitig zu jonglieren. Die Zeit drängt.

Beispiele aus der Werkstatt der Westfalenpost 2021, im Jahr des 75. Geburtstags:

Datenjournalismus 

Daten können guten Journalismus stützen und noch besser machen. Deshalb arbeiten wir in jeder Redaktion mit mehreren Dashboards und natürlich mit Qualitätsstandards. Sie sind keine Raketenwissenschaft. Dass eine gute Geschichte Antworten auf wichtige Fragen unserer Kundinnen und Kunden liefern muss, ist keine Entdeckung des Internet-Zeitalters.

Einbindung der Leserschaft 

Wir haben uns ein klares Bild von unseren Zielgruppen gemacht und Personas auch bildlich entwickelt. Es ist gut zu wissen, für wen man schreibt. Bei allem, was wir tun, binden wir unsere Leserinnen und Leser ein. Zuletzt haben beim Projekt „Corona-Check – wie hat die Pandemie unser Leben verändert?“ mehr als 12.500 Menschen aus der Region mehr als 20 Fragen der WP beantwortet. Daten-Analysten unterstützen uns dabei. Kürzlich startete für jede Lokalredaktion eine „User-Redaktionskonferenz“. Sie läuft ausschließlich digital. Wir möchten wissen, was die Menschen über ihre Zeitung denken und was wir besser machen können.

Neue Leserschichten erschließen 

Wir suchen auch die Verbindung zu denen, die noch nicht bei uns sind. Auf Initiative unseres Conversion-Managers Richard Wix haben wir am 8. Mai einen ganzen Tag lang in einem Streaming-Format die Arbeit der Redaktion in einer Mischung aus Videos und Live-Talk vorgestellt. 15 Kolleginnen und Kollegen waren allein aus der Redaktion beteiligt. Mit dem „WP-Digitaltag“ erreichten wir über unser Markenportal rund 5.000 Menschen, über Facebook etwa 16.000.

Labor und Theater 

Ort der Sendung war die „WP-Arena“. Dieser frühere Desk-Bereich ist nach skandinavischem Vorbild für kleines Geld zu einem Kommunikations- und Kreativzentrum umgebaut worden. Die Möbel sind gebraucht. Hier laufen nicht nur Meetings und Workshops in einem ganz anderen Setting. Wir spielen auch Theater. In Zusammenarbeit mit dem renommierten Dramaturgen Werner Hahn ist das Stück „Mücken auf der Haut“ entstanden. Es thematisiert humorvoll das Thema Diversität in einer Lokalredaktion. Hier besteht bei uns großer Nachholbedarf. Das geben wir offen und öffentlich zu. Premiere ist übrigens im September – sobald Corona es zulässt. Zu diesem Thema durften wir in der Serie „Mein Leben“ gerade neun Menschen vorstellen, die in ihrem Alltag Ausgrenzung erfahren. Die Geschichten waren die mit den besten Lesequoten der vergangenen Monate.

Innovationstreiber sein 

Für zwei Lokalredaktionen – in Menden und Neheim – entwickeln wir in einer Arbeitsgruppe aktuell das Konzept „Lokalredaktion der Zukunft“. Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist ganz schlicht „Employer branding“. Wer für eine Lokalredaktion im Sauerland arbeitet, soll spüren, dass die WP den Anspruch hat, Innovationstreiber zu sein.

Wir bleiben neugierig und in Bewegung. Deshalb fahren einige aus dem „WPeople-Team“ Anfang August mit Fahrrädern durchs gesamte Verbreitungsbiet – eine Woche lang. Jeden Tag 75 Kilometer. Wir treffen 75 Menschen an 75 Orten und suchen das Gespräch, übernachten eher spartanisch. In der Mitte unserer Gesellschaft können wir nur ankommen, wenn wir uns auf den Weg machen.

 

Der Text erscheint in der drehscheibe-Ausgabe 7/2021.

In der Ausgabe 05/2021 eröffnete Michael Husarek, Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten, die Debatte. Er fragte sich, welche Leserschaft Lokalzeitungen mit ihren Angeboten überhaupt noch erreichen. Zum Text

In der Ausgabe 06/2021 forderte Marc Rath den Lokaljournalismus auf, sich wieder in die Mitte des Lebens zu begeben. Zum Text

 

Dr. Jost Lübben

ist seit 2015 Chefredakteur von Westfalenpost und Westfälische Rundschau, seit 2018 Mitglied in der Jury Deutscher Lokaljournalistenpreis.

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