Fiene checkt

Wie Redaktionen die Leser abholen

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Unser Kolumnist Daniel Fiene checkt, wie ernst die Redaktionen die Floskel „Die Leser abholen“ nehmen. (Foto: AdobeStock/winston)
Unser Kolumnist Daniel Fiene checkt, wie ernst die Redaktionen die Floskel „Die Leser abholen“ nehmen. (Foto: AdobeStock/winston)

Meine Beobachtung aus vielen Zeitungsredaktionen: Spätestens in Richtung Wochenende fällt die Formulierung „da holen wir die Leser ab“, wenn für die Samstagsausgabe das „große Interview“ oder die „ausgeruhte Reportage“ in der Konferenz vorgestellt werden. Was damit gemeint ist: Am Wochenende haben die Leserinnen und Leser Zeit für längere und tiefgründigere Texte, die mehr Lesezeit erfordern. Oder die Redaktion geht davon aus, dass die Leserschaft dann eine größere Bereitschaft hat, sich auf andere Themen einzulassen.

Immer wenn dieser Satz fällt, denke ich: Und wo bringt die Redaktion dann die Leser hin? Zugegeben, das ist ein bisschen zynisch. Aber: So richtig der Ansatz ist, oft ist er von Zeitungsredaktionen nicht zu Ende gedacht. Der Blick über den Branchentellerrand zeigt, dass diese Formulierung auch von anderen Medienbranchen genutzt, aber in der Regel ganz anders verstanden und umgesetzt wird. Schauen wir uns das einmal an. Es gibt ein Medium, dass die Nutzerinnen und Nutzer nicht nur ein paar Mal in der Woche, sondern sogar mehrmals in der Stunde „abholen muss“. Es sind die Kollegen beim Radio.

Was wir vom Radio lernen können

Schon bevor das Internert mit seinen unendlich vielen Inhalten in den Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer getreten ist, hatten die Kollegen beim Radio eine schwierige Aufgabe: Sie müssen mit ihren Wortbeiträgen gegen die Musik in ihrem Programm antreten. Oft haben sie nur wenige Sekunden, um die Hörer des Programms zu überzeugen, zwischen Ohrwurm und Lieblingshit auch beim aktuell geplanten Thema dran zu bleiben.

Was Radiomoderatoren deswegen verinnerlicht haben: Sich in die momentane Situation ihrer Hörerschaft reinzuversetzen, um eine Brücke zum Thema zu schlagen. So schaffen sie es, dass sie nicht nur bis zur nächsten Musik geduldet werden, sondern dass vielleicht das Radio sogar etwas lauter gedreht wird, wenn die Hörer das Thema anspricht.

Radiomoderatoren überlegen sich, welchen Nutzen die Hörerschaft durch die Meldung hat.

Die Methode dahinter ist recht simpel: Statt beispielsweise nachrichtlich die neusten Entscheidungen des Stadtrats aufzuzählen, überlegen sich die Moderatoren zunächst, welchen Nutzen die Hörerschaft durch die gefällten Entscheidungen haben kann. Um es spannender zu machen, bauen sie einen kleinen Cliffhanger ein und bringen sich manchmal auch noch persönlich mit ein.

Mal angenommen im Stadtrat wird entschieden, dass ein großes Budget für den Umbau einer wichtigen innerstädtischen Straße genehmigt wird, um diese fahrradfreundlicher zu gestalten. Das ist die eigentliche Nachricht, aber steigt man genau damit im Radio ein, ist das aus Hörersicht sehr langweilig. Wenn der Moderator aber einsteigt und die Hörer fragt, wann sie sich zuletzt richtig geärgert haben, als sie mit dem Rad über die bekannte Straße gefahren sind, weil Zweite-Reihe-Parker zu gefährlichen Ausweichmanövern zwingen, dann ist das ein Erlebnis, das so manche Hörer teilen. Die Aussicht, dass sich das in den nächsten Monaten ändern wird, ist für sie interessant. Möglich macht es die Entscheidung im Stadtrat. In diesem Fall hat der Moderator die Hörer wirklich abgeholt.

Leser werden dann abgeholt, wenn eine Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird.

Leser, Hörer und Zuschauer werden also dann wirklich abgeholt, wenn eine Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird. Was ist ihr Nutzen? Welches Bedürfnis wird für sie gestillt? Wenn Texte, Reportage und Interviews im Einstieg, Teaser und in der Zeile darauf gedreht werden, dann ist die Intention “die Leser abholen zu wollen” alles andere als eine Floskel.

Mein Fazit: Achten Sie (weiter) darauf, Ihre Leser, Hörer und Zuschauer abholen zu wollen, aber gehen Sie noch einen Schritt weiter. Wenn Sie Ihre Texte dann auch noch auf dem Titel, in Newslettern oder über Social-Media über diese userzentrierte Perskepktive drehen, dann werden die Nutzer einen ganz anderen Zugang zu den Inhalten finden.

Mein Tipp: In den meisten Redaktionen gibt es Kolleginnen und Kollegen, die schon einmal für einen Radiosender gearbeitet haben. Vielleicht haben Sie sogar Kollegen, die nicht nur als Reporter, sondern auch im Moderieren von Sendungen Erfahrung haben. Bitten Sie die doch einmal einen Teaser für einen Newsletter oder ein Social-Media-Posting nach dem Prinzip einer Radio-Anmoderation zu formulieren. Meine Wette: Der Text holt auch Sie und die ganze Redaktion ab.

Daniel Fiene

ist Medienjournalist und Begründer des Podcasts „Was mit Medien“.

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