Debatte

Komplexe User-Journey

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Das junge Zielpublikum ist schwer zu erreichen. (Foto: AdobeStock/DisobeyArt)
Das junge Zielpublikum ist schwer zu erreichen. (Foto: AdobeStock/DisobeyArt)

Die Euphorie schien grenzenlos: Endlich, so war in fast allen Fachpublikationen zu lesen, werde den Angeboten aus Medienhäusern die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdienten. Satte Zuwächse bei den digitalen Abos, mit dieser Meldung warteten Häuser mit Paid-Content-Angeboten auf. Von Steigerungsraten bei den Reichweitenportalen ganz zu schweigen. Und selbst die Printauflagen, mangels Perspektiven mancherorts mit dem Sorgenkinder-Stempel gebrandmarkt, feierten fröhliche Urständ. Corona sei Dank.

Die Welt schöngeredet

Soweit das Narrativ des Jahres 2020. Ja, so eine Pandemie hat eben auch ihre guten Seiten, dachten sich viele Lokaljournalisten – und atmeten vernehmbar auf. Statt sich in den Blasen der sozialen Netzwerke Tag für Tag an dem satt zu essen, was einem schmeckt, sei der Appetit auf seriösen Journalismus kontinuierlich gestiegen. Soweit der Rückblick, mit dem sich eine über die Jahre von Rückschlägen gebeutelte Branche die Welt nach dem ersten Lockdown schönredete – ein Stück weit zumindest.

Natürlich sind die Zahlen der Digitalabos gestiegen, gleiches galt zwischenzeitlich auch für die Print-Probeabos – doch wie ist es ein Jahr nach dem Einzug von Sars-CoV-2 in unsere Welt um die Haltbarkeit wirklich bestellt? Die Antwort fällt vielerorts ernüchternd aus. Das Virus tut sich mit Reichweitengewinnen trotz angelaufener Impfung weiterhin leichter als dies für die Zugewinne in vielen Verlagshäusern gilt. Eine Schwalbe macht halt noch keinen Sommer. Anders formuliert: Die gestiegene Nachfrage des vergangenen Frühjahrs hat sich in etlichen Verlagshäusern als nicht nachhaltig herausgestellt.

Zwar konnten im ersten Lockdown mehr Menschen angesprochen werden als dies vorher der Fall war, doch etlichen ist die Corona-Dosis wohl zu hoch gewesen. Ein Beispiel: Ein 54-jähriger, langjähriger Abonnent der Nürnberger Nachrichten räumte nach seiner Kündigung auf Nachfrage freimütig ein: „Die Medienwelt war meinungsmäßig weitgehend gleichgeschaltet. Zumindest zu Beginn der Pandemie. Das brauche ich nicht mehr, außerdem wird die Zeitung immer dünner und substanzloser.“ Keine Einzelstimme, zumindest unter unseren Leserinnen und Lesern waren solche Töne immer wieder zu vernehmen. Oft konnten Kündigungen durch längere Mailwechsel abgewendet werden, der Aufwand seitens der Chefredaktion war allerdings ein hoher.

Schade. Denn gerade Menschen in den Mittfünfziger würden wir gerne länger binden: Führungskraft, finanziell gut situiert, an das Printprodukt gewöhnt, früher wäre das eine gesicherte, jahrzehntelange Abobeziehung gewesen. Heute sind die Kunden volatiler. Auch in Print. Und eine Pause vom Gedruckten leitet – leider – oft das Ende der Kundenbeziehung ein.

Doch nicht nur Print muss den kurzzeitigen Hoffnungsschimmer wohl wieder begraben, auch die Bezahlangebote sind (noch) kein Selbstläufer. Relevant um jeden Prei – das soll dem Kunden geboten werden, um ihn am Ende der User-Journey mit einem Digital-Abo beglücken zu können.

Problem junge Zielgruppe

In den seltensten Fällen gelingt dies mit Menschen, die noch nie einen Bezug zum Medienhaus vor Ort hatten. Die jungen, bislang nicht an eine Medienmarke gebundenen Schichten sind in der Regel kaum zu einem Abschluss bereit. Obwohl sie Abo-Modellen gegenüber sehr aufgeschlossen sind – Amazon Prime, Spotify, Sky und Netflix lassen grüßen.

Wen erreichen wir also noch mit unseren Produkten? Das ist die Kernfrage und diese erfordert zunächst mal Nehmerqualitäten: Wenn von „jungen“ Zielgruppen die Rede ist, sind nicht selten die 45- bis 60-Jährigen gemeint. Die wirklichen Jungen sind im Moment durch rein nachrichtlich-journalistische Angebote, die immer noch das Kerngeschäft der meisten Verlage ausmachen, schwer zu binden. Die JIM-Studie 2020 weist für die 12- bis 19-Jährigen sieben Prozent tägliche Nutzung eines Online-Angebots einer Tageszeitung aus. Also eher wenig.

In den nächsthöheren Alterskohorten sieht es nicht viel besser aus. Natürlich können die Statistiken von Lobby- und Berufsverbänden dagegengehalten werden und somit bessere Reichweiten aufgelistet werden. Nur: Machen wir uns da nicht etwas vor? Ich bin kein Schwarzseher, sondern Optimist. Ich glaube also an eine Zukunft von gut gemachten Medienangeboten auch aus unseren Häusern. Ich glaube allerdings nicht daran, dass die ehemals geschlossene Kette Zeitung-in-der-Schule gefolgt von Zeitungsdebatten im Elternhaus, das die Zeitung abonniert hatte, bis zum Abo nach Gründung des eigenen Hausstandes heute noch funktioniert. Die User-Journey ist komplexer, sie findet beinahe ausschließlich im Netz statt, und die Mitbewerber dort sind wirkungsmächtig. Umso mehr ein Grund, die Frage „Wen erreichen wir noch?“ offen und ehrlich zu diskutieren.

Am Ende der Pandemie wird dies mindestens so notwendig sein wie vorher. Denn Corona hat zwar für einen kurzen Aufschwung gesorgt, unsere Reichweitenprobleme hat das Virus nicht gelöst. Oder anders formuliert: Die Medienmutation bleibt brandgefährlich.

Der Text erschien zuerst in der drehscheibe-Ausgabe 5/2021.

 

Michael Husarek

ist Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten und Mitglied im projektteam Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. (Foto: Ralf Rödel)

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