Fiene checkt

TikTok und das Lokale

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Vor allem junge Menschen nutzen TikTok. (Foto: AdobeStock/tashatuvango)
Vor allem junge Menschen nutzen TikTok. (Foto: AdobeStock/tashatuvango)

Die Zahlen beeindrucken: 81.000 Abrufe für ein Video über Alkoholkonsum nach der Corona-Impfung für die Mediengruppe VRM aus dem Rhein-Main-Gebiet. 111.000 Abrufe für ein Video über das Verhältnis von Joe Biden zur EU von der Funke Zentralredaktion. 280.000 Abrufe für ein Video über die Urlaubs-Chancen in diesem Jahr für die Rheinische Post. Alle diese Videos laufen auf der Trend-App TikTok.

Gerade weil Verlage sich mit erfolgreichen Online-Video-Strategien bisher schwer taten, machen diese Erfolge neugierig. Außerdem wird TikTok vor allem von jungen Menschen genutzt — eine Zielgruppe, die Medienmarken dringend erreichen möchten. Woche für Woche melden sich derzeit Verlage, die mit einem eigenen TikTok-Kanal durchstarten möchten. Nicht nur bei Trenddiskussionen innerhalb der Branche ist die App omnipräsent, sie bestimmt auch die Schlagzeilen. In den letzten Zügen der Präsidentschaft von Donald Trump hat seine Verbotsforderung die App zum geopolitischen Spielball werden lassen. Nicht ohne Grund: Es gibt keine App, die schneller weltweit mehr als eine Milliarde Nutzerinnen und Nutzer erreichen konnte — Facebook und Instagram haben deutlich länger gebraucht.

TikTok ist die Unterhaltungsplattform für Teenager und junge Erwachsene. Sie bietet einen endlosen Strom an kurzen Videos. Das Suchtpotenzial ist groß: Der Algorithmus lernt sehr schnell, welche Videos den Usern gefallen, und sucht sie entsprechend individuell aus. Ich kenne selbst einige Medienprofis, die die App zum Selbstschutz vom privaten Smartphone gelöscht haben. Sie haben sich nach Feierabend in ihr verloren.

(Foto: AdobeStock/oatawa)
(Foto: AdobeStock/oatawa)

In vielen Redaktionen stellt sich zur Zeit die Frage: Sollen wir auch einen TikTok-Kanal starten? Ohne Frage: Das ist ein innovativer Ansatz, um Journalismus an einem Ort zu betreiben, an dem Menschen gerne Inhalte konsumieren. Aber ist das auch ein guter Ansatz?

Was dafür spricht

● Für junge Menschen gehören selbst Webseiten und Nachrichten-Apps zum alten Eisen. Das zeigt der frisch veröffentlichte Digital News Report 2021 vom Reuters Institute of Journalism. Das Ergebnis ist in diesem Jahr alarmierend: Es wächst eine neue Generation heran, deren Nachrichtenkonsum sich die sich radikal von dem der bisherigen Jugend unterscheidet. Wer heute unter 25 Jahre alt ist (Gen Z), konsumiert seine Nachrichten vor allem über Social-Media, Messenger, Aggregatoren und via Push-Mitteilungen.
● Junge Menschen auf TikTok sind auf der Suche nach verlässlichen Informationsquellen. Die Digital-Journalistin Johanna Rüdiger (Deutsche Welle) hat in einem News-Experiment auf ihrem privaten Account festgestellt: Schnell hatte sie mehr als 10.000 Followerinnen und Follower, die ihre Nachrichten konsumieren und ihr rückmelden: „Du bist für mich die einzige Newsquelle.” Sie wurde sogar mehrfach auf der Straße angesprochen. Ihren interessanten Bericht können Sie in dieser Podcast-Ausgabe von „Was mit Medien“. nachhören.
● TikTok hat ein Interesse daran, dass auch klassische Medienmarke auf der Plattform aktiv sind. Im Gegensatz zu anderen Plattformen investiert die Plattform direkt Geld: Im Rahmen des Programms #LernenMitTikTok erhalten Redaktionen ein Budget, mit dem sie den Account für mehrere Monate bespielen können.
● Medienleute stellen fest: Videos mit Abrufen im fünfstelligen Bereich sind keine einmaligen Erfolge. Sie lassen sich relativ regelmäßig realisieren. Aber darüber entscheidet am Ende nicht die Zahl der Follower, sondern der TikTok-Algorithmus.

Was dagegen spricht

● TikTok funktioniert fundamental anders als Facebook, Twitter oder Instagram. Auf den Klassikern der Social-Welt geht es darum, eine Followerschaft aufzubauen, an die dann (so es der Algorithmus will) die eigenen Inhalte ausgespielt werden. Bei TikTok gehen die Inhalte potentiell an die gesamte Userschaft. Da ist die Frage: Hat es einen Wert, wenn zwar viele kurz das Markenlogo sehen, Bindung zur Marke aber keine Rolle spielt?
● Auch wenn TikTok in der Branche und in der Politik omnipräsent ist, ist die tatsächliche Nutzung in Deutschland bisher bescheiden. Nur drei Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren ist einmal die Woche auf TikTok, wie die aktuelle ARD-ZDF-Onlinestudie zeigt. Dieser Wert wird in den nächsten Jahren steigen, relativiert aber aktuell die Chance, einen strategischen Nutzen für die eigene Medienmarke zu ziehen. Derzeit ist noch nicht das Publikum auf TikTok, dass sich für Besuche auf Nachrichten-Webseiten oder für den Kauf von Digital-Abos interessiert.
● Auch wenn deutsche Medien bisher keine negativen Erfahrungen gemacht haben, sind sie sich der chinesischen Herkunft der App bewusst. Schon mehrfach war die App international wegen Löschvorwürfen in der Kritik. China-Kritik deutscher Medien ist aber bisher geduldet worden.
● TikTok ist zeitaufwendig zu betreuen und der Lebenszyklus eines Videos unterscheidet sich deutlich vom Produktionszyklus einer Nachrichtenredaktion deutlich. Während Themen aus Redaktionen in der Regel eine Halbwertszeit von einem Tag haben, starten viele Videos auf der Plattform erst nach einigen Tagen durch. Das zeigen die elf Learnings der Rheinischen Post, die das TikTok-Team des Regionalverlags kürzlich veröffentlicht hat.

Was also tun?

Abwarten. Der Hype um TikTok ist sehr interessant, aber kein Anlass, die Social-Media-Strategie eilig anzupassen. Medienmarken können derzeit kaum Ziele erreichen, die auf das eigene Haus einzahlen. Zeitaufwand und Nutzen stehen in keinem Verhältnis. Anders sieht es natürlich aus, wenn TikTok – etwa durch neue Programme wie #LernenMitTikTok – die Präsenz bezahlt oder sich andere Monetarisierungsoptionen ergeben.

Mein Tipp

Nutzen Sie lieber die Zeit und lernen Sie das Prinzip TikTok kennen. Machen Sie doch ein Experiment. Legen Sie einen Account an und schauen Sie sich nur Videos komplett an, in denen Tiere lustige Dinge machen. Wischen Sie direkt zum nächsten Video, sobald ein Mensch zu sehen ist. Sie werden sehen: Irgendwann bekommen Sie nur lustige Tiervideos zu sehen. Faszinierend. Nebenbei lernen Sie viel über Jugendkultur, wie junge Menschen Informationen vermitteln, Haltung zeigen und miteinander in den Diskurs gehen.

Links zum Thema

● Der deutsche Journalist Marcus Bösch gibt einen wöchentlichen (englischen) Newsletter heraus, der TikTok und Jugendtrends erklärt. Zum Newsletter
● Hier finden Sie die Funke Zentralredaktion auf TikTok
● Die Rheinische Post auf TikTok
VRM auf TikTok

Daniel Fiene

ist Medienjournalist und Begründer des Podcasts „Was mit Medien“.

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