Themenwoche Kriminalität

„Konkrete Bedrohungen sind besser auszuhalten als diffuse“

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Im Jahr 2018 ist die Kriminalitätsrate in Deutschland erneut gesunken. Die Zahl der Straftaten lag mit 5,4 Millionen auf dem niedrigsten Wert seit 1992, der Rückgang betrug 3,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das teilte Bundesinnenminister Horst Seehofer Anfang April mit. Gleichzeitig wies er daraufhin, dass das subjektive Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung weiter zugenommen habe.

Über dieses Phänomen sprachen wir mit Stephan Grünewald, Diplom-Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts. Rund 20.000 Tiefeninterviews hat das Institut in den vergangenen Jahren geführt. Daraus erstellt es eine Art Psychogramm der Nation. Die neuesten Erkenntnisse hat Grünewald in dem Buch „Wie tickt Deutschland“ zusammengefasst.

Herr Grünewald, warum meinen die Deutschen, dass das Leben hierzulande immer unsicherer und gefährlicher werde, während die Polizei-Statistiken das Gegenteil belegen? Sie sprechen ja in Ihrem Buch von einer „verunsicherten Gesellschaft“.

Wir erleben derzeit einen ungeheuren Umbruch. Es gibt krisenhafte Wandelerscheinungen, die für viele Menschen nicht greifbar sind. Digitalisierung, Globalisierung, Veränderungen der Arbeitswelt. Man fragt sich: Was passiert, wenn Europa auseinanderdriftet und Amerika uns eher in den Rücken fällt, als uns zu unterstützen? Die alten Gewissheiten lösen sich auf, und das führt zu einem diffusen Bedrohungsgefühl. Dann wird versucht, diese diffuse Bedrohung dingfest zu machen. Konkrete Bedrohungen sind wesentlich besser auszuhalten als diffuse Bedrohungen. Gegen eine konkrete Bedrohung können wir etwas ausrichten. Von daher war die Flüchtlingskrise einerseits bedrohlich, andererseits aber auch entlastend, weil die diffusen Zukunftsängste dadurch ein Gesicht und eine Körperlichkeit erhielten. Da kann man Obergrenzen definieren, Mauern bauen, Leute zurückschicken usw. Gegenüber den diffusen Gefahren hingegen fühlt man sich ohnmächtig. Das Gefühl, nicht handeln zu können, ist schwer aushaltbar.

Welche Rolle spielen in diesem Prozess die Medien oder die sozialen Netzwerke?

Durch die sozialen Netzwerke werden partielle Ereignisse groß aufgeblasen, sie erhalten eine ungeheure Breitenwirkung. Dadurch wird die Bedrohungslage allgegenwärtig, obwohl die Kriminalitätsrate laut Statistik zurückgeht.

Das hat dann ja etwas Irrationales. Wie kann man dem entgegenwirken?

Immer wenn man etwas unternimmt und tätig wirkt, verflüchtigt sich die Angst. Diffuse, irrationale Ängste nehmen ab, wenn man mit der Realität konfrontiert wird. Das ist übrigens einer der Gründe, warum die Angst vor Flüchtlingen in Teilen Ostdeutschlands, wo wenige Migranten leben, stärker ist als im Westen, etwa im Ruhrgebiet. In manchen Regionen Ostdeutschlands fehlt die Realitätsanbindung, in diesem Fall der Kontakt zu Menschen, die von woanders kommen.

Was gibt zur Hoffnung Anlass, dass dieses Bedrohungsgefühl wieder abnimmt?

Es ist zwar kein Hoffnungsschimmer im ursprünglichen Sinne, aber in dem Moment, wo wir mit realen Bedrohungen konfrontiert werden, kommt es nicht mehr zu diesen Übersprungshandlungen. Das ist wie beim Immunsystem. Wenn es mit wenigen realen Erregern konfrontiert wird,  reagiert man plötzlich allergisch auf die kleinsten Partikel. Wenn wir stärker mit realen Gefahren wie einer Wirtschaftskrise, Klimaproblemen oder anderem konfrontiert werden, werden die diffusen Bedrohungen unwichtiger.

Also ist das Bedrohungsgefühl eine Art Wohlstandskrankheit?

Jeder kennt das aus dem Alltag: Im Urlaub kriegen die Gefahren und Probleme ein anderes Gewicht als im Alltagsleben. Je besser es uns geht, umso mehr wollen wir uns absichern. Als in den Nachkriegsjahren Deutschland von den Trümmerfrauen und den Überlebenden wieder aufgebaut wurde, gab es nicht dieses große Bedürfnis nach Absicherung.

Und was empfehlen Sie angesichts dieser Lage Lokalzeitungen, wenn sie über Kriminalität berichten?

Auch hier ist es wichtig, aus der Ohnmacht herauszuführen und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen: Wie und was wurde bereits ermittelt? Was kann der Bürger in dem konkreten Fall tun? Und wie kann er oder die Gemeinde wirksam Vorsorge treffen?

Interview: Stefan Wirner

Mehr Infos zum Buch von Stephan Grünewald gibt es hier.

Stephan Grünewald

ist Diplom-Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts.

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