Leseranwalt

860-fache Falschmeldung

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Aus drehscheibe 07/2021

Kleine Unklarheit, große Wirkung: Ausgelöst hat sie ein Satz auf der Titelseite der gedruckten Main-Post vom 15. April. Unter der Überschrift „Aktuelle Ausgangssperren in Unterfranken“ war da wörtlich zu lesen: „In bayerischen Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen dauerhaft eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 überschritten wird, ist nach geltendem Recht von 22 Uhr bis 5 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung (und dem dazugehörigen Garten oder Balkon) untersagt.“ Erst nach mehrfachem Lesen begriff auch ich, was nicht gemeint ist: Es wird ausdrücklich nicht verboten, sich im eigenen Garten oder auf dem Balkon aufzuhalten.

Besser hätte es also so heißen müssen: „… der Aufenthalt außerhalb der Wohnung, des dazugehörigen Gartens oder Balkons ist untersagt.“ Stattdessen war hier ungeschickt umformuliert, was das Bayerische Staatsministerium des Inneren korrekt so mitgeteilt hatte: „Hinweis: Vom Begriff der Wohnung erfasst sind auch privat genutzte Gärten, Terrassen und Balkone.“

Das „und“ in der Klammer legt beim Lesen des Zeitungstextes das Verbot auch für Garten und Balkon nahe. Das hätte klargestellt werden müssen. Wurde es aber nicht, wohl weil die missverständliche Formulierung nicht gleich erkannt worden ist.

Ganz anders im Internet. Dort wurde das angebliche Verbot für den Aufenthalt auf dem eigenen Balkon oder im Garten zum gefundenen Fressen für Gegner der Ausgangssperre. „Worte verbinden nur, wo unsere Wellenlängen längst übereinstimmen“, hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch mal sehr treffend festgehalten. Wohl weil die Wellenlänge für Corona-Maßnahmen viele Menschen nicht mehr erreicht, erschlossen sie sich nicht selbst, dass kein Verbot für Garten oder Balkon gemeint sein kann.

So wurde, noch bevor der Fehler auch im Netz enttarnt war, zwischen 16. und 20. April rund 860-mal auf Facebook der irritierende Zeitungstext kopiert, geteilt und als Verbot weiter verbreitet. So teilt es die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) in einem ihrer regelmäßigen Faktenchecks mit. Zur Verdeutlichung war auf Facebook stets der zitierte Klammertext samt „untersagt“ farbig herausgehoben.

Die AFP berichtet beispielhaft, wie Nutzerinnen und Nutzer dazu in den Facebook-Postings geschimpft haben: „Wenn du dich nach 21 Uhr nicht einmal mehr auf dem eigenen Balkon aufhalten darfst, dann kannst du mit Fug und Recht behaupten, in einer Diktatur zu leben!“ Oder: „Hallo, bin im Garten und strecke gerade den Mittelfinger in die Luft … (...) Das ist keine Hassrede, sondern normaler Menschenverstand und Grundrecht!“

Was lernen Redaktionen daraus? In dem mittlerweile äußerst belastenden Stadium der Pandemie-Bekämpfung müssen nicht nur Regierungsmitglieder Worte auf eine Waagschale legen, die sprichwörtlich der von Apothekern gleicht.

Dieser Beitrag erschien erstmals auf Mainpost.de am 28. April 2021.

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

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