Leseranwalt

Was erscheint, bestimmt die Redaktion

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Aus drehscheibe 10/2022

Eine Leserin ist erbost. Eine Vielzahl von Leserbriefen ist erschienen, und die Meinung der Leser deckt sich so überhaupt nicht mit der ihren. Es geht dabei um den Themenkomplex „Energie, Gaskrise, Verbraucherpreise“. Sie selbst bezeichnet sich als Gegnerin der Kernkraft. Dass sich jetzt so viele Menschen für eine Laufzeitverlängerung aussprechen und die Zeitung diesen Leuten auch noch Raum auf der Leserbriefseite gibt, versteht sie gar nicht. Und dass eine Zeitung wie die unsere auch über Politiker oder Gruppen aus der Wirtschaft berichtet, die entweder zum Kauf neuer Brennstäbe anregen oder gar abgeschaltete Kraftwerke wieder ans Netz bringen wollen, hält sie für unnötig. „Ich habe nicht jahrelang dafür gekämpft, dass ich das jetzt alles wieder lesen muss“, schreibt sie an die Redaktion.

Deshalb hat sie ihrerseits einen Leserbrief verfasst, gegen dessen Veröffentlichung rein gar nichts spricht. Er erfüllt alle Anforderungen, die ein Leserbrief haben muss. Er bezieht sich auf unsere Berichterstattung, ist in sachlicher Form gefasst, es gibt weder Mutmaßungen noch Beschimpfungen – alles ganz okay. Doch die Absenderin schreibt noch dazu: „Ich erwarte, dass Sie meinen Leserbrief veröffentlichen, sonst sehe ich mich genötigt, die Zeitung abzubestellen.“

Es wäre einfach gewesen, den Leserbrief auf der nächstmöglichen Zeitungsseite zu veröffentlichen. Doch unsere Redaktion möchte transparent sein – und hält es für den besseren Weg, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, wenn sie schon einmal entstanden sind. Und deshalb greife ich zum Telefon. Ich erkläre der Leserin, dass es im freien Entscheiden der Redaktion liegt, was in der Zeitung erscheint. Und ihre nachdrückliche Forderung im Grunde nichts anderes ist als der versuchte Eingriff in die Pressefreiheit.

Das hatte die Frau weder bedacht noch zuvor so gehört. Sie ist natürlich etwas verdutzt, fragt ein paar Dinge nach – und am Ende weiß sie, was der Unterschied zwischen ihrer persönlichen Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit ist. Und dass die Meinungsfreiheit mitnichten beschnitten ist, wenn ein Leserbrief aus welchen Gründen auch immer, nicht erscheint. Ja, sie entschuldigt sich sogar, dass ihr im Anschreiben an die Redaktion der „Gaul durchgegangen“ ist. „Wissen Sie, wenn man für ein Thema brennt wie ich, dann kann ich manchmal gar nicht verstehen, dass andere anders ticken“, sagt die Leserin zerknirscht. Und so bedankt sie sich am Ende des wirklich guten Gesprächs für den Anruf und die erklärenden Worte. Bestimmt freut sie sich auch, wenn ein paar Tage später ihre Leserzuschrift in der Zeitung zu lesen ist.

Kerstin Dolde

Autorin

Kerstin Dolde ist Leseranwältin der Frankenpost und der Neuen Presse Coburg.
Telefon 09281 – 81 61 00
E-Mail leseranwalt@frankenpost.de

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