Ein Fall für den Presserat

Krankheit als Metapher

von

Der Fall:

Die Online-Ausgabe einer Lokalzeitung veröffentlicht einen Beitrag unter der Überschrift: „Und Tränen lügen doch.“ Der Text ist eine Theaterkritik des Stücks „Germania – Tod in Berlin“ von Heiner Müller, aufgeführt in Bremen. Der Einstieg in den Artikel lautet: „Wer schon mal vor mehr als hundert Menschen masturbiert hat, wer schon einmal wie ein Hund über die Bühne gekrochen ist, wer schon mal einen Contergan-Wolf geboren hat: Der ist reif für den Theaterbetrieb.“ Insgesamt wird das Stück im weiteren Beitrag kritisch gewürdigt. Eine Leserin beschwert sich beim Presserat. Sie ist selber ein Contergan- Opfer und vielfach geschädigt. Sie vertritt das Contergan-Netzwerk. Im Mittelpunkt der Kritik steht die diskriminierende Ausdrucksweise im ersten Satz des Artikels. Aus Sicht der Betroffenen ist es nicht vertretbar, sich in dieser beleidigenden Weise über das Leid der Contergan-Opfer zu äußern.

Die Redaktion:

Der Chefredakteur verweist auf eine der bekanntesten Szenen im Stück „Germania – Tod in Berlin“. Zu dieser gehört die Geburt eines contergangeschädigten Wolfes. Diesen bezeichnet die Redaktion in der Rezension als „Contergan-Wolf“. Offensichtlich sei das Theaterstück in der Öffentlichkeit nicht ausreichend bekannt. Der umstrittene Begriff hätte in Anführungszeichen stehen müssen, räumt der Chefredakteur ein. Alternativ dazu hätte die Redaktion den Zusammenhang erklären müssen. Er reagiert auch auf die Kritik des Contergan-Netzwerks, das sich auf der Homepage der Zeitung ebenfalls über den Begriff beschwert hat. Dort stellt er klar, dass es sich um einen Begriff des Autors handelt. Der Chefredakteur bedauert das Missverständnis. Auch in einem Leserforum auf der Homepage entschuldigt er sich.

Das Ergebnis:

Die Redaktion hätten den Begriff „Contergan-Wolf“ erklären müssen. Zu diesem Ergebnis kommt der Presserat. Die Zeitung hat damit die Grenze zur Diskriminierung (Ziffer 12 des Pressekodex) überschritten. Indem die Zeitung den Begriff ohne Anführungszeichen verwendet, macht sie ihn sich gewissermaßen zu eigen. Selbstverständlich kann einem Rezensenten nicht verwehrt werden, Begriffe aus einem Stück zu verwenden. In diesem Fall bedurfte es jedoch zwingend einer Erläuterung. Die Kritik und Betroffenheit contergangeschädigter Menschen ist nachzuvollziehen. Offensichtlich tut dies auch die Redaktion, die sich bei ihren Lesern entschuldigt hat. Der Presserat spricht einen Hinweis aus.

Der Kodex:

Ziffer 12  –  Diskriminierungen

Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.

Edda Eick

Autorin

Edda Eick ist Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.
Telefon 030 – 36 70 07-0
E-Mail: eick@presserat.de

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