Storytelling Dezember 2013 Kommentar

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Zusammen betrachten, was zusammen gehört

Menschen im Pflegeheim, das Pflegegesetz – ein gewöhnliches Thema, überall machbar. Ulrike Nimz schreibt dazu einen ungewöhnlichen Text. Singulär sind ihre Sprache, ihre Form, ihre Haltung. Und ihre Protagonisten. Von Marie Lampert

Form und Mitgefühl



Die Form ist eine Notlösung, sagt Ulrike Nimz. Sie erzählt drei Geschichten, eine nach der anderen – das Paar, die Tochter, die Pfleger. Die Not: Die Übergänge wollten nicht fließen. Die Lösung ist gut, weil einfach und plausibel. Vor allem aber ermöglicht sie das Mitfühlen. Wir kommen dem Paar nah und dürfen ihm nah bleiben bis die Tochter übernimmt. Wir kommen der Tochter nah und bleiben es, bis die Pfleger kommen. Wären die Perspektiven ineinander geflochten, hätten wir springen müssen. Zappen zwischen Personen schwächt die Empathie.

Verdichten


„75 Jahre lang hatten sie Schulter an Schulter geschlafen und nicht vor, damit aufzuhören.“ In diesem Satz – und in vielen mehr – schwingen Jahre und Jahrzehnte, die der Text nur andeutet. Brigitte Seibold hat dieses Prinzip bildlich dargestellt. Im Vordergrund die Gegenwart aus drei Blickwinkeln. Im Hintergrund Skizzen und Fragmenten aus Lebensgeschichten. Zum Beispiel so: „Irgendwann hörte sein Frau auf, die Räuchermännchen zu zählen, die er ihr schenkte.“ Oder, im Abschnitt der Tochter: „Ihr Leben erstarrte zwischen zwei Wohnblocks.“

Drei Teile verbinden



Was tut die Autorin, damit der Text im Nacheinander der Protagonisten nicht auseinander fällt? Sie wahrt die Einheit des Ortes und lässt sämtliche Szenen im Pflegeheim und im Park spielen. Sie webt Motive quer durch ihre drei Abschnitte: Katze, Eiche, Krieg. Die Tabelle zeigt die Struktur.

Haltung in der Sprache


Ulrike Nimz guckt genau und schreibt auch so. Mit ihrer Sprache schafft sie ein Paradoxon – sie verleiht der Demenz Würde und Poesie. „Ihre Mutter trägt ein blaues Halstuch und eine schwere Strickjacke, so als würde sie dem Sommer nicht recht trauen. Ihr Vater nimmt eine Erdbeere aus der Pappschale, schaut sie an wie einen seltenen Stein und legt sie behutsam in seinen Schoß“.

Den Begriff „Demenz“ gebraucht sie ein einziges Mal – um damit die Pflegestufe von Walter Göhler zu erläutern. Ansonsten beschreibt sie, wie sie Herrn Göhler erlebt: „Seit er nicht mehr jedes Gesicht erkennt, begrüßt er jeden wie einen Freund.“ Begriffe wie „krank“ und „Krankheit“ kommen im Text nicht vor. Außer in den Verbindungen „Krankenwagen“, „Krankenpfleger“, „Krankenversicherung“.


Filmisch schreiben

Fakten vermittelt die Autorin  meist über Vorher-Nachher-Sequenzen, über Handlungen. So entstehen bewegte Bilder im Kopf der Leser.  „Wenn die Sonne durch die Zweige scheint, bekommen die weißen Wände Muster.“
„Zweimal in der Woche wagt das Paar einen Ausflug zum nahe gelegenen Supermarkt. Hildegart Göhler stützt sich auf ihren Gehwagen. Walter Göhler folgt auf Krücken...“  „Hannelore Stoltze wischt die Wachstischdecke ab, untersucht die Pfirsiche nach Druckstellen, schneidet die Nelken neu an und wirft die Servietten weg, die ihr Vater gern in die Sofaecken stopft.“


Philemon und Baucis – der Mythos lässt grüßen

Die Protagonisten der Geschichte sind sehr besonders. Ein Paar von 98 Jahren, seit 75 Jahren verheiratet, das sich offenbar noch immer innig zugetan ist. In der griechischen Mythologie gibt es solch ein Paar: Philemon und Baucis. Die verarmten Alten erhalten Besuch von den Göttern und bewirten sie großzügig, ohne sie zu erkennen. Zum Dank erfüllen die Götter den Wunsch der Beiden, sich niemals trennen zu müssen. Sie verwandeln das Paar in Bäume, Philemon in eine Eiche und Baucis in eine Linde. Den Mythos muss man nicht kennen, um vom einer 75 Jahre währenden Ehe beeindruckt zu sein. Aber wenn man die Wirkung des Textes verstehen will, darf man das Kraftfeld des Mythos mit bedenken.


Zusammenhang

„Nur zu Besuch“ erzählt vom Besonderen und vom Allgemeinen. Vom individuellem Schicksal und dem Pflegegesetz. Die Geschichte stellt Zusammenhänge her. Das ist, was eine Geschichte kann: Sie macht das Gesetz konkret und das Schicksal zum Exempel.


Randnote: Der Preis

Der Reportagepreis für junge Journalisten 2013, vergeben vom Netzwerk JungeJournalisten.de, der Heinrich-Böll-Stiftung und Süddeutsche.de., wurde am 12. Oktober verliehen. Ulrike Nimz bekam den zweiten Preis. Maris Hubschmid vom Tagespiegel und Sebastian Kempkens (Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung) erhielten den ersten und dritten Preis.

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Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

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