Storytelling Februar 2014

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Zufallstreffer Bad Lippspringe

Wirf den Dartpfeil auf die Karte. Lass den Zufall einen Ort wählen. Fahr hin, schau und schreib. Das war die Aufgabe, die die Volontäre der Neuen Westfälischen zu lösen hatten. Miriam Scharlibbe traf Bad Lippspringe, und dort eine alte Dame, die sie kaum vergessen wird. Was sie ihre Abenteuerreise gelehrt hat, erzählt sie im Making of.
Aus der Neuen Westfälischen (Bielefeld), 7. November 2013.

Sprudelndes Leben im Kurort

(Die Überschrift lädt ein und passt perfekt zum Bild)


Ein idyllischer Kurort, so präsentiert sich Bad Lippspringe selbst. Parks und Kliniken prägen den Ort. Für unsere Serie „Volltreffer OWL“ hat Miriam Scharlibbe mit dem Dartpfeil auf eine Ostwestfalen-Lippe-Karte geworfen und die Kleinstadt im Kreis Paderborn getroffen. Ihr Abenteuer (Fährte und Versprechen): einen Tag und eine Nacht dort zu verbringen. Sie spazierte durch den Kurpark, nippte am Heilwasser der Liboriusquelle, entspannte sich in einer Salzgrotte und sprach mit vielen Menschen. Dabei stellte sie schnell fest, dass es nicht die Kurgäste oder Touristen sind, die den Ort prägen, sondern die Bürger, die dort zuhause sind. Und sie lernte, dass sich Gäste und Einheimische auf einen Blick unterscheiden lassen: Die einen schieben ihr Fahrrad in der Fußgängerzone (Touristen), die anderen fahren (Einwohner). Schließlich tauchte sie ein in die Welt einer fast 90-jährigen Dame, die ihr Glück in der Kunst gefunden hat, nachdem sie Krieg, Leid und Not überlebt, die westfälische Heimat für sechs Jahrzehnte verlassen hatte und dann zurückgekehrt war zu ihren geliebten Wäldern (Der Lead fasst die Geschichte zusammen).

 

Von Miriam Scharlibbe (Text) und Jörg Dieckmann (Fotos).

 


Bad Lippspringe. Wer hätte gedacht, dass dieses Abenteuer so endet? In einem Haus gefüllt mit Kunst, Literatur und Geschichten, die die 89-jährige Besitzerin angehäuft hat? Sie hat den Krieg erlebt und die Welt gesehen. Es ist schon dunkel, und ich fülle unsere Gläser mit Messwein auf (führt das Motiv Religion ein). Ich werde in dieser Nacht viel lachen. Und ich werde staunen über die Stärke dieser Frau, die so viel Leid gesehen hat (Der Vorgriff weckt Erwartungen). Und darüber, wie der Zufall uns zusammengeführt hat.

Ich beginne meine kleine Reise durch Bad Lippspringe im Schatten der Burgruine an dem tiefblauen Quellteich der Lippe, der im Volksmund auch „Odins Auge“ genannt wird (malerischer Einstieg). Der Sage nach hat der germanische Göttervater sein Auge herausgerissen und in die trockene Sennelandschaft geworfen, um sie mit Feuchtigkeit und blühendem Leben zu segnen (Die Aura des Mythos ist gesetzt...). Sehr lebendig toben Kinder am Rand des Teichs in der Herbstsonne (... und bruchlos in die Gegenwart geführt). Die Enten drängen sich dicht an dicht. Dazwischen schwimmt ein schwarzer Schwan (Die märchenhafte Szenerie...). Er reagiert auf die Stimme einer blonden Frau. Auf ihrem Rücken lese ich den Schriftzug „Bürgerservice“ (...wendet sich ins Faktische). Sie scheint sich auszukennen. Sigrid Floral (erste Begegnung) stellt sich als eine von zwei Angestellten der Stadt vor, die für Ordnung und Orientierung sorgen. Dazu gehört auch die Pflege des Stadtmaskottchens, des Trauerschwans „Lohengrin“. Er ist stattliche 30 Jahre alt. Täglich bekommt er eine halbe Dose Mais. Das soll gegen die Arthrose helfen.


Der Zufall stellt Weichen

Floral hat die Ankündigung meines Besuchs in der Zeitung gelesen. Spontan entschließt sie sich, mir die Stadt zu zeigen. Unterwegs grüßt Floral jeden, der uns begegnet, mit Vornamen. Doch als ein Mann an uns vorbeiradelt, wird die sanfte Frau zum Dorfsheriff. Die Fußgängerzone ist ihr Revier. „Absteigen und schieben, junger Mann, das ist gefährlich.“ Der Radler gehorcht nur widerwillig.

Lob für ihr Eingreifen erntet Floral von einer Dame, die sich uns mit ihrem Rollator genähert hat. Sie macht ihrem Ärger Luft. Schon öfters sei sie beinahe umgefahren worden. Wir kommen ins Gespräch. Künstlerin sei sie, mit eigenem Atelier in ihrem Haus. Margret Botschen-Thombansen (zweite Begegnung) greift meine Hand und lächelt. „Ich habe so viel zu erzählen“, sagt die 89-Jährige. Ich möchte ihr zuhören und verabrede mich mit ihr für den Nachmittag (Die Autorin erkennt und ergreift die Chance).

Gemeinsam mit Sigrid Floral spaziere ich bis zum Kurpark, das Aushängeschild der Stadt. Friedhelm Bendix (dritte Begegnung) schaufelt die letzten Blätter auf den gefüllten Wagen. Fast 30 Jahre ist er schon Gärtner im Park. Ein Knochenjob. „Wir haben eineinhalb Stellen für die gesamten 10.000 Quadratmeter“, sagt Bendix. Im Sommer haben er und sein Kollege 60.000 Blumen gepflanzt (Fakten über die Person vermittelt). Bendix wünscht sich Unterstützung. Doch die Stadt muss sparen. Dennoch wird Wert darauf gelegt, dass der große Bestand an Bäumen und Blumen gepflegt wird. Sie locken schließlich die Touristen an, genauso wie das angeblich heilende Wasser der Liboriusquelle.

An dem sprudelnden Quell bedienen sich aber auch Einheimische. Ob das Wasser tatsächlich heilende Kraft hat, kann Michelle Dresdner (vierte Begegnung) nicht mit Sicherheit sagen. Die 21-jährige Logopädin füllt es sich dennoch regelmäßig ab. „Oft muss man sogar anstehen, bis die Quelle frei ist“, sagt Dresdner. Vielleicht, so überlege ich, sind die Lippspringer aber auch nur besonders sparsam und ziehen das Gratiswasser dem aus dem Getränkemarkt vor (die Autorin als kritische Beobachterin).

Inzwischen habe ich etliche Kilometer zurückgelegt und gönne mir eine Ruhepause in der Salzgrotte (der einzige Ort ohne neue Begegnung). Umgeben vom Meeresklima lasse ich mich auf Entspannungsmusik ein.


Die neue Bekannte

Wenig später öffnet mir Margret Botschen-Thombansen erwartungsvoll ihre Tür. Das Haus ist hell und offen. Nach oben weitet sich die Galerie, auf der die 89-Jährige ihre Bilder ausstellt. Bei Kaffee und Kuchen erzählt Botschen-Thombansen von ihrer Jugend in Paderborn. In Schloß Neuhaus geboren, fuhr sie in die Domstadt zur Mädchenschule. An derselben Schule habe ich vor fünf Jahren meinen Abschluss gemacht. Die Gemeinsamkeit öffnet Herz und Mund meiner Gastgeberin (Me too – die Gemeinsamkeit erstreckt sich auf die Leser, die dieses Phänomen ebenfalls kennen).

Als 17-jähriges Mädchen musste Botschen-Thombansen den Einsatzwagen für das Rote Kreuz fahren. Es war 1940 und Krieg. „Ich habe schlimme Sachen gesehen“, erinnert sich die Ostwestfälin. „Ich höre noch heute Hitlers Rufe“, sagt sie. Seit damals begleitet sie die Frage nach der Schuld, danach, wie all die Gräuel im Dritten Reich geschehen konnten. Es hat ihren Glauben beeinflusst. „Dass von der Kanzel kein Widerspruch kam, war schlimm.“ Auch die Schwestern in der Klosterschule hätten sehr gelitten unter dem Diktat. Die jüdischen Mädchen seien dennoch ohne Widerspruch abgeholt worden.

 

 

Heimweh nach Lippspringe

Von klein auf sei sie kritisch katholisch gewesen, sagt Botschen-Thombansen. 70 Jahre hat sie mit sich gerungen, bis sie 1993 doch aus der Kirche austrat. Den Gottesdienst im Radio verpasst sie trotzdem nicht. Der kleine Kasten ist ihr Ein und Alles. Nur wenige Wochen trennen die Geburtsstunde des Hörfunks (Querverweis zum historischer Kontext) von der der Künstlerin.


Die 89-Jährige liebt ihr Zuhause in Bad Lippspringe. Erst vor zehn Jahren zog es sie zurück in die Heimat. „Mir haben die westfälischen Wälder gefehlt (Bezug zu Bad Lippspringe).“ Ohne jemanden einzuweihen, verkaufte die damals 80-Jährige ihr Haus am Niederrhein, wo sie fast 60 Jahre mit ihrem Mann Josef gelebt und das Modegeschäft seiner Familie geführt hatte, und kaufte das Grundstück in Bad Lippspringe (Wendepunkt/Neubeginn). Dort hat sie genügend Platz für ihre Kunst.


Fürs Leben gelernt

Alles Erlebte verarbeitet sie in den Bildern. Nach dem Tod ihres Mannes 1986 (Wendepunkt) begann sie mit der Malerei (Neuer Aufbruch). „Und das ganz ohne Studium“, sagt sie nicht ohne Stolz. Ihr einziges staatliches Zeugnis sei der Führerschein. „Und dennoch kann ich mich mit jedem Herrn Professor unterhalten.“ Leonardo da Vinci, Vincent van Gogh und Matthias Grünewald sind ihre Inspiration. „Du musst aus der Masse ausbrechen“, sagt Botschen-Thombansen. „Das muss dein Wille sein, dann kriegst du Flügel.“

Wir reden bis kurz vor Mitternacht. Dann werden die Augen müde und der Mund trotz der eineinhalb Flaschen Messwein trocken. Margret – wir sind inzwischen beim Du (Me too – sowas kennen die Leser) – hat mein Angebot, Schlafplatz gegen Gesellschaft zu tauschen, dankend angenommen. Ich sehe mich bereits im Schatten ihrer Bilder auf dem Teppich liegen, da öffnet mir die 89-Jährige eine kleine Tür (Wendung zurück ins Märchenhafte), die vom Atelier in ein Gästezimmer führt. Dankbar und erschöpft schlafe ich wie ein Stein.

Am nächsten Morgen trete ich, erfüllt von all den Eindrücken, die Heimreise an und versuche zu verstehen, wie viel demjenigen passieren kann, der alle Pläne verwirft und die Geschichten auf der Straße sucht. Es gehört nur Mut dazu (Die Erwartungen sind eingelöst). Ich höre noch Margrets Worte: „Eine Frau muss sich Zeit nehmen, innerlich zu wachsen und stark zu werden wie eine Eiche (Das Zitat kommentiert Miriam Scharlibbe im Making of).“

 

Wir danken Miriam Scharlibbe, Jörg Dieckmann und der Neuen Westfälischen für das kostenfreie Überlassen der Rechte.

 

Die kursivierten Kommentare stammen von Marie Lampert, die den Werkraum Storytelling der ABZV betreut.

 

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Miriam Scharlibbe, geboren 1988, schrieb ihre ersten Artikel für die Schülerzeitung. Während des Studiums (Medienkommunikation und Journalismus) absolvierte sie Praktika in verschiedenen Printredaktionen (u.a. Neue Westfälische, dpa, Spiegel). Das erste Zeilenhonorar war dann zwar klein, das Gefühl, mit Schreiben Geld zu verdienen, aber unbezahlbar. Nach einem Jahr als Freie Journalistin in Bielefeld und Hamburg begann sie im September 2012 ein Volontariat bei der Neuen Westfälischen.

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