Storytelling März 2014 Kommentar

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Werben, locken, kokettieren

Die Zahlen sprechen von Trend. Oliver Schlicht erzählt vom Gegentrend. Er denkt an seine Leser, und nicht nur das – er zwinkert ihnen zu. Von Marie Lampert

Aufbau

Der Text ist aufgebaut wie ein belegtes Brötchen. Zwei Bäckermeister sind die knusprigen Hälften, oben und unten. Der etwas trockene Belag dazwischen kommt vom Verbandssprecher, der liefert Zahlen und Hintergründe. Wer vom Brötchen noch nicht satt ist, kann sich im Infokasten einen Nachschlag holen. Brigitte Seibold hat das Brötchen gezeichnet. gezeichnet.


Werben um die Leser

Oliver Schlicht will, dass die Leser anbeißen. Er reizt und lockt sie, wo er kann. Optisch mit einem Foto – dem eines verschmitzten jungen Bäckers hinter einer Brötchenpyramide. Man erkennt die kultigen Brötchen aus alter Zeit (später erfahren die Leser, warum der Bäcker sie nicht „DDR-Brötchen“ nennt).


Inhaltlich lockt der Autor mit einem Widerspruch. In der Überschrift heißt es „Bäckereikrise: Die gegen den Trend anbacken“. Da wird ein Konflikt, ein Kampf versprochen. Verstärkt wird das im Lead durch ein biblisches Motiv, fein gebrochen durch ein bisschen Asterix: Sie „kämpfen tapfer mit Brötchen und Streuselkuchen wie David und Goliath“.

Sinnlich schreiben

Mit der Kamerafahrt von der Totalen – Dorfstraße Jerichow –  führt Oliver Schlicht die Leser ran und rein in den Bäckerladen. Zoom aufs Detail: Frisch überzogener Dominostein, die Schokolade noch nicht ganz trocken. Der Duft steigt dem Leser in die Nase, das Wasser läuft ihm im Mund zusammen, da wispert schon die Stimme der Vernunft: „gefährlich“ und „böse, böse“. So geht sinnlich schreiben.

Protagonisten portionieren

Zwei Protagonisten stehen für das Spektrum der Einzelbäcker respektive Familienunternehmen. Altmeister Rode wird sein Geschäft demnächst übergeben, der junge Meister Bahrendt hat seinen Laden gerade erst installiert. Bahrendt ist der Hingucker auf der Seite. Man will mehr wissen, sobald man sein Konterfei nebst Brötchen gesehen hat. Der Autor aber lässt seine Leser genüsslich zappeln, sie sollen sich erst mal kundig machen und durch das Zahlenwerk beißen, bevor er ihnen im Finale seinen Shooting-Star präsentiert. Beide Bäcker sind als Personen erkennbar (auch im Bild), als selbstbewusste und leidenschaftliche Vertreter ihrer Zunft. Der Verbandssprecher bleibt demgegenüber blass.

 

Zahlen und Geschichten verbinden

Nach dem sinnlich-szenischen Einstieg nimmt Schlicht das Abstraktum „Bäckereikrise“ wieder auf und verbindet es mit dem ersten Beispiel, dem Laden des Bäckermeisters Rode. Erreicht Rode die Marge von einer Million Umsatz, die der Branchenverband für zukunftsfähige Bäckereien ansetzt? Nein. Sofort entsteht Spannung, und eine Frage im Kopf der Leser: Wie will Rode überleben? Cliffhanger. Die Leser müssen sich noch zwei Absätze gedulden. Rode darf von alten Zeiten erzählen und über gestiegene Stromkosten klagen. Dann erst verrät er, wie er sich die Zukunft denkt.

Der Autor im Text

 

Man spürt den Erzähler. Wie macht er das?

• Er wählt plastische Begriffe wie „Bäckereisterben“, „Totenglocke“ oder „David gegen Goliath“.

• Er macht sich in der Szene zum Stellvertreter seiner Leser: „Der Blechkuchen schmeckt so gefährlich, dass man gleich alle Sorten durchprobieren möchte“. (Funktioniert problemlos mit dem „man“, der Text braucht kein „ich“.)

• Er dramatisiert und wertet. Rode nennt er einen „wackeren Kämpfer“ an der „Shoppingfront“, und „tapfer“.

• Er hat Stil. Er macht kurze Sätze: „Und dann die Dominosteinchen erst“. Und schreibt umgangssprachlich: „ ...würde die Länge dieses Beitrags locker verdoppeln“.

• Er kokettiert mit dem Leser. Sein Schluss ist lustig und gemein. Warum er stolz darauf ist, erklärt er im Making of.


Was fürs Auge

Der Autor – er fotografiert selbst – setzt seine Protagonisten mit größter Sorgfalt ins Bild. Mit Brötchen, mit Bäckermütze, auf Augenhöhe mit den Lesern. Was die Bilder zeigen, finden die Leser im Text wieder. Und der verschmitzte junge Bäcker mit seinen Retro-Brötchen auf dem Aufmacherfoto funktioniert wie ein Versprechen, das den Lesern durch den Mittelteil hilft. Der junge Meister kommt als Belohnung zum Schluss.

Aristoteles-Check

Wo ist hier das Vorher-Nachher, wo sind Anfang, Mitte und Ende, die Aristoteles als Prinzip einer Handlung fordert? In jeder Brötchenhälfte bzw. Bäckerstory wird ein Vorher-Nachher erzählt. Rodes Bogen reicht vom Großvater Albert bis zum frisch geprüften Nachwuchs-Meister, der sein Geschäft übernehmen wird. Bahrendt entwickelt sich vom Düsedau-Lehrling zum Shooting-Star der Backszene. Und die Leserin womöglich zur entschlossenen Familienbetriebs-Kundin.

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Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

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