Storytelling Mai 2014 Kommentar

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Strukturwandel zum Staunen und Anfassen

Kathrin Haasis bezirzt ihre Leser mit der speziellen Protagonistin und Utensilien aus der Sphäre eines Kaufmannsladens. Ihre skurrile Geschichte macht einen tiefgreifenden Wandel sichtbar. Von Marie Lampert

Surreal real


Eine tüchtige Schwäbin im Hobbyraum. Ein Riesenschreibtisch, die Rechenmaschine. Der Einstieg in den Text – in Korrespondenz mit dem Foto von Martin Stollberg – weckt Assoziationen an Kindertage und Kaufmannsspiele. Da  klingt etwas nach alter Zeit, nach sieben Bergen und sieben Zwergen. Das Surreale, das später mit Fakten kontrastiert, verleiht dem Text seinen Charme.

 

Elke Schmidt als Original


Elke Schmidt hat nicht nur die Sparkasse, sie ist die Sparkasse von Ochsenbach. Sie dient nicht als Vehikel für „Strukturwandel“, sondern beseelt den Text mit Charakter. Wir erleben sie als trockene Realistin „ich bin nicht mehr aktuell“, als selbstbewusste Angestellte „hat den Einbau eines Spions verlangt“, als brave Gattin „Mein Mann sagte, mach das“, als furchtsame Geldverwalterin „schlief ... unruhig im Schlafzimmer direkt über dem Hobbyraum“ und als Sammlerin von Bauernschränken „Ich wusste ja, wenn die Leute sich neu einrichten wollen“.

Elke Schmidt als Prototyp

 

Elke Schmidt ist in Ochsenbach aufgewachsen und hat hier ihre Kinder großgezogen. Beim Turnverein, in Schützen- und Sportverein ist sie dabei. Und bei aller Selbstständigkeit bleibt die Sparkassenlady doch stets auch Gattin. Der Ehemann hat keinen Vornamen, ist aber als Grundierung des Tableaus immer wieder sichtbar. Am Anfang – es ist ja sein Hobbyraum –, am Ende  – im Zusammenhang mit der Bankräuber-Anekdote –  und in der Mitte  – er sagt „mach das“, und bei den Vereinen sind sie gemeinsam. Frau Schmidt sei der Prototyp der Schwäbin auf dem Lande, sagt die Zeichnerin Brigitte Seibold, selber Schwäbin vom Lande.

 

Drei Nebenfiguren

 

Regionaldirektor Zimmermann bleibt ein Mensch ohne Eigenschaften. Die Leser erfahren nicht einmal, dass die Kathrin Haasis ihn im Hobbyraum realiter getroffen hat (davon erzählt sie im Making of). Sie weist ihm die Rolle des Faktenlieferanten zu.
Zwei Kundinnen tätigen typische Bankgeschäfte: „Birgit“ holt Bargeld und die „Frau mit Baby“ will etwas überweisen. Die beiden stehen für Alltag in der Filiale, und bleiben als Personen ebenfalls blass. Haasis platziert sie in der Mitte und gegen Schluss des Textes.

 

Vorher-Nachher


Im Text können Leser miterleben, wie alles begann und voraussichtlich enden wird. Einerseits die individuelle Entwicklung von Elke Schmidt und ihrer Berufstätigkeit. Andererseits die Entwicklung der Filiale, die sie vor 28 Jahren übernahm und vermutlich schließen wird, wenn sie in drei Jahren in Rente geht. Das ist die Geschichte vom Strukturwandel am Beispiel der Sparkassen im ländlichen Raum. Das Vorher-Nachher ist Charakteristikum einer Story.

 

Heldin, Ort und Handlung


Die Wirkung des Textes beruht wesentlich auf der urigen Protagonistin und dem ungewöhnlichen Ort, den Leser unwillkürlich mit den ihnen bekannten Bankfilialen in Beziehung setzen. Dieser Ort wird nicht verlassen. Während einer Öffnungszeit kommen zwei Kundinnen. Rückblicke, Ausblicke und Hintergründe sind zwischen Szenen eingebettet. Heldin, Ort und Handlung sind Grundzutaten eines Dramas – und auch einer anständigen Geschichte.

 

Fakten

 

Die Absätze 3, 7 und 9 sind Fakten gewidmet. Schwerpunkte sind zunächst die Sparkassenfilialen im Kreis Ludwigsburg – Absatz 3 –, in der Mitte im Absatz 7 die Konkurrenz am Ort und die Rentabilität der Filiale Ochsenbach und schließlich in Absatz 9 die Zahlen zu Bankfilialen, Onlinebanking und zur Konkurrenz über die Region hinaus.

 

Abstrakt und konkret

 

Leserinnen wollen sich eingeladen fühlen und bequem einsteigen. Das funktioniert über eine überzeugende Person. Und/oder über einen charakteristischen Gegenstand. Selbst ein abstraktes Thema wie „Strukturwandel “ lässt sich so konkretisieren. Konkret ist, was man anfassen, was man zeichnen oder mit den Sinnen wahrnehmen kann, eine Buchungsmaschine oder ein Osterhasen-Aufkleber. Wo ein Text konkret ist, weckt er Assoziationen und Bilder bei seinen Lesern. Wo eine Autorin Abstraktum und Konkretion verbindet, schafft sie Verständnis für Zusammenhänge. Mit dem Instrument der Leiter – der Leiter des Erzählers – oder im amerikanischen  ursprünglich „ladder of abstraction“ – lassen sich die Zwischenstufen finden und nachvollziehen.

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Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

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