Storytelling November 2013 Making-of

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„Wir müssen Themen setzen und Diskussionen auslösen“

Warum ein leitender Redakteur seine Skrupel über Bord wirft, eine Liebeserklärung einschließlich Polemik schreibt und wie sein Mut belohnt wird.

Herr Bräuning, in Ihrem Artikel haben Sie kundgetan, wie es Ihnen persönlich mit der Aussicht auf noch mehr Windräder geht. Eine ganze Seite für die Befindlichkeit eines Chefredakteurs. Macht man das so bei der Gießener Allgemeinen?

Vor zehn Jahren hätte sich das überhaupt niemand getraut, vor fünf Jahren auch noch nicht. Es geht hier übrigens nicht um Befindlichkeiten des Chefredakteurs. Windkraft ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Nicht nur in Mittelhessen. Und wir sind der Meinung – anders als früher – dass wir hier klar Stellung beziehen sollten. Wir als Zeitung oder als Mitarbeiter sind da nicht mehr so zurückhaltend. In der Form war es jetzt ein erstes Mal, so was wie ein Testballon. Was sagen die Leute dazu, wenn ein leitender Redakteur sich eine ganze Seite nimmt, um seine Sicht der Dinge vorzutragen, aus dem Raum, in dem er selbst lebt? Ist das nicht zu sehr Schreiben in eigener Sache? Wie werden das die Leser bewerten? Vor so einer Reaktion hatte ich auch wirklich Angst.

Haben Sie sich in der Chefetage rückversichert?

Ich hab das nicht mit meinen Geschäftsführern abgesprochen, sondern auf eigene Rechnung veröffentlicht, und vorher nur mit dem Leiter der Kreisredaktion geredet. Der sagte: Mach es.

Sind Ihnen die Leser an den Kragen gegangen?

Die Reaktion war verblüffend. Die Leute haben gesagt: Endlich bezieht mal ein Redakteur klar Stellung. Es wurde nicht diskutiert: Warum darf der das. Sondern: Prima, dass der das gemacht hat. Emotion ist ein Thema! Und Heimat ist ein Thema! Ich habe noch nie so viel Resonanz bekommen wie auf diesen Text. Ich treffe immer noch manchmal Leute, die sagen: Der Artikel war der Hammer. Ich hab ihn zweimal gelesen. Und aufgehoben. Es gab 80 Prozent Zustimmung und 20 Prozent zum Teil harte Kritik, unter anderem von Leuten, die beruflich mit Windkraft zu tun haben. Der Artikel hat eine Lawine an Diskussionen losgetreten. Und das ist natürlich auch eine Aufgabe der Zeitung, so was anzuregen.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Erfolg des Testballons?

Ich bin der Meinung, dass wir künftig mehr Themen selbst setzen müssen. Wir leben in einer Stadt mit 80.000 Menschen, in der es eine Menge Probleme gibt. Und wir greifen diese Probleme zu wenig auf. Wir sind mit Sicherheit eine der Städte mit einer der katastrophalsten Ampelschaltungen bundesweit. Sie fahren hier keine 100 Meter, ohne dass Sie vor der nächsten Ampel wieder stehen bleiben. Das müsste zum Beispiel  ein Thema sein. Wir fahren als Redakteure durch die Stadt und beschreiben dieses Drama. Es ist bewusst gemacht mit der roten Welle, warum auch immer.

Wir haben auch das Thema Landesgartenschau. Da gibt es Befürworter und Gegner. Die streiten sich sehr. Da müssten wir moderieren und auch klarer Stellung beziehen.  Wir müssen Themen setzen, den Leuten eine Basis bieten für eine Diskussion. Sie müssen sich auch in der Zeitung wiederfinden. Auf Leserbriefseiten, in Stellungnahmen der Parteien, solche Formen.

Sie beschreiben Ihre Liebe zur Landschaft, aber auch Ihre Ambivalenzen, in denen sich Leser selbst erkennen können. Einerseits, andererseits.

Das Thema interessiert mich, seitdem es im Vogelsberg Windräder gibt. Ich bin sehr für die Energiewende, schon bevor es die gab, dachte ich, wir müssen irgendwann weg von der Atomkraft. Aber das, was dort geschieht, hat in mir etwas ausgelöst, was es wahrscheinlich bei vielen anderen Menschen in der Region auch ausgelöst hat. Auf der einen Seite ist man für erneuerbare Energien, auf der anderen Seite sieht man, dass Windräder nicht so schön sind und nicht so toll in die Landschaft passen, dass sie Nachteile haben. Aber man will nicht als der gelten, der die Energiewende fordert, aber keine Nachteile in Kauf nehmen will.

Was gab den Ausschlag dafür, die Leser so tief in Ihre Seele blicken zu lassen?

Ich habe den Plan für die neuen Windräder in unserer Zeitung gesehen und gesagt: Das ist zu viel. Habe mich eines Mittwochabends hingesetzt und aufgeschrieben, was aus mir raus wollte. Ich wusste, ich will es emotional halten, und ich wusste, es soll nicht von Fachwissen glänzen, das ich gar nicht habe. Ich kann nur meine Erfahrungen bieten, fünfzig Jahre Leben hier in diesem Gebiet.

Wie haben Sie den Text strukturiert?

Stichworte hatte ich schon die ganze Woche gesammelt. Es gab gewisse Kernpunkte. Und es war auch klar, dass ich nicht ganz auf Polemik verzichten wollte. Ich habe mich auf wenige Zahlen beschränkt, keinen Menschen angerufen, niemanden interviewt. Ich habe mir eine kleine Struktur gegeben und angefangen zu schreiben. Am nächsten Abend hab ich es überarbeitet, dem Kollegen aus der Kreisredaktion gegeben und gesagt: Druck‘s ab. Dann bin ich in den Urlaub gefahren und hab gedacht: Mal sehen, was kommt! Und es passierte ganz viel.

Die stärkste Stelle ist für mich das völlig irrationale Argument mit dem Nikolaus.

Das ist mir erst beim Schreiben in den Kopf gekommen. An diesem 6. Dezember war ich im Wald mit meiner Familie, mit den Kindern und Freunden. Es schneite, alles war weiß, und der kommt da um die Ecke, zieht seinen großen Schlitten hinter sich her, gibt den Kindern ein Geschenkchen und mahnt uns, immer brav zu sein. Dann geht er wieder.
Ich denke, das ist jedem Leser klar, dass das jemand arrangiert hatte. Der Jemand war ich. Zu meiner Überraschung bekam ich selbst eine Gänsehaut, obwohl ich wusste, was kommen würde.

Man könnte denken: Bräuning glaubt noch an den Nikolaus.

Ich glaub nicht an den Osterhasen oder an den Nikolaus, aber find es toll, dass man sich bestimmte Dinge vorstellen kann. Es gäbe ja sonst keine Romane, Filme und Geschichten. Ob so was in einen Zeitungstext reinpasst, ist eine andere Frage. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Leute so was lesen wollen.

Es gibt da diese alte Geschichte von dem 8-jährigen Mädchen Virginia, die schreibt an den Chefredakteur der New York Sun. Sie fragt ihn, ob es den Santa Claus gibt, und er erklärt ihr in einem Leitartikel, warum man an Wunder glauben muss. Das ist doch schön!

Welche Funktion hat der Nikolaus für Ihren Text?

Der Nikolaus ist ein Bild, mit dem man die Leute in die Geschichte reinzieht. Ich brauchte irgendwas, womit ich Interesse wecke. Wir hatten ja schon Windräder und noch mehr Windräder ... das lockt keinen hinter dem Ofen hervor. Aber der Nikolaus und Windräder? Ich habe gehofft, und es hat sich bestätigt: Die Leute wollten wissen, was das miteinander zu tun hat.

 

Interview: Marie Lampert

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