Storytelling Oktober 2013

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Bad Lauchstädt ist anders

Das Gegenteil eines Wutbürgers ist der Bad Lauchstädter. Er lebt entspannt unter Strommasten, seit Jahrzehnten. Kai Kollenberg unternimmt einen Rundgang durch Bad Lauchstädt, befragt Einheimische und fördert Typisches, Skurriles und Geschichtliches zu Tage. Der Leser staunt. Aus der Leipziger Volkszeitung vom 3./4. August 2013.

Unterm Strom

Drei große Stromautobahnen sollen Deutschland fit machen für die Energiewende. Eine davon wird wahrscheinlich im sachsen-anhaltischen Bad Lauchstädt vor den Toren Leipzigs beginnen. (Anlass, Relevanz, lokaler Bezug) Während andernorts der Bau von Hochspannungstrassen gefürchtet wird, haben sich die Lauchstädter an sie gewöhnt.(Der Satz löst Fragen und Erwartungen aus.) Von Kai Kollenberg


Von Kai Kollenberg

(1) In Gerhard Deutschbeins Garten kribbelt es. Das Gefühl steigt die Beine hinauf, kriecht die Bauchdecke hoch, an den Armen entlang, zurück zum Nacken. Tausend unsichtbare Ameisen. Die Haare richten sich auf. Die Nase juckt. (szenisch-kribbelnder Einstieg) Der Körper geht auf Hab-Acht-Stellung. Deutschbein merkt diese Unruhe nicht mehr. (Protagonist 1, ein Bürger) Nur manchmal schlägt sie Funken, wenn er sich über den Arm streift, und den Finger an einen Gast hält, um ihn zu erschrecken. Es funktioniert nicht immer.

(2) Ein elektrisches Feld umschließt seine kleine grünen Oase, die direkt gegenüber dem Wohnblock liegt, in der er mit seiner Frau zweieinhalb Zimmer bewohnt. Guckt Deutschbein gen Himmel, sieht der 76-Jährige 25, vielleicht 30 Meter über sich die Hochspannungskabel. 380 000 Volt schießen durch die Verbindungen, hinüber zum Umspannwerk, an dessen Grenze er seinen Garten bestellt. (Szenen und Fakten sind verwoben.) Sie sind noch am Boden zu spüren. Die elektrische Spannung strahlt ab. Sie kribbelt, zwickt, entlädt sich auf der Haut. Deutschbein ignoriert es. Er hat gelernt mit dem Strom zu leben. Auch das stählerne Skelett des Strommastes stört ihn nicht, das seinen Garten überragt. (Vom sinnlichen Detail - dem Kribbbeln – zoomt der Autor in die Totale.) So ist das eben hier in Bad Lauchstädt.

Kandidat für die Stromautobahn


(3) Bad Lauchstädt firmiert offiziell als Goethestadt. (Das Profane – der Strommast – kontrastiert mit dem Erhabenen.) Der Klassiker der deutschen Literatur hat hier im Jahr 1802 der Eröffnung eines kleinen Theaters beigewohnt, das dem Weimarer Hoftheater unter seiner Leitung eine prächtige Heimat für die Sommergastspiele bieten sollte. Goethe selbst steuerte ein Sechstel der Bausumme von 9000 Talern bei. Seitdem ist die Stadt mit seinem Namen verbunden. Noch heute wollen sie im Rathaus am liebsten über den Dichterfürsten und dessen Spuren im Süden Sachsen-Anhalts sprechen. Der Strom, die Masten, die kilometerlangen Kabel seien doch nicht so wichtig, sagt Stadtoberhaupt und FDP-Politikerin Ilse Niewiadoma. (Protagonistin 2, die OB) Dabei ist es genau der Strom, der Bad Lauchstädt knapp 20 Kilometer südlich von Halle so interessant macht. Ob die Bewohner wollen oder nicht.

(4) Eine der großen drei Stromautobahnen, (Grafik und Kasten erläutern den Kontext auf der Seite) die Deutschland für die Energiewende rüsten sollen, wird wohl ihren Ursprung in Bad Lauchstädt haben. Fix ist noch nichts, zumal die Bundesnetzagentur den genauen Verlauf noch genehmigen muss. Bereits jetzt laufen aus allen Himmelsrichtungen Trassen auf die Kommune mit knapp 10000 Einwohnern zu. Strommasten umzingeln die Stadt, schnüren (herrlich starke Verben) sie geradezu ein. Der Strom surrt über den Köpfen der Lauchstädter, beim Spaziergang über die Felder passieren oder kreuzen sie die Trassen. Ein großes Umspannwerk existiert seit DDR-Zeiten. Seit der Wiedervereinigung kamen neue Leitungen hinzu.

Hochspannung ist hier normal


(5) An Strom sind die Lauchstädter gewohnt. Es gibt Leute, die erzählen mit einem Lächeln, dass ihrer Mutter durch die elektrische Ladung die Haare zu Berge stehen, wenn sie zum Kaffeeklatsch in der kleinen Wohnung vorbeischaut. (Anekdote) Das Surren, das an den Strommasten in der Luft liegt, nehmen sie nicht mehr wahr. Halbironisch scherzt eine Stadtangestellte (Die Dame ist eine Randfigur und bleibt namenlos) gar: „Wir sind alles gelernte DDR-Bürger." Die Hochspannung gehört zum Stadtbild – meint auch Bürgermeisterin Niewiadoma. „Das war bei uns schon immer so", sagt sie. „Das ist historisch gewachsen." Dadurch, das geben selbst die Stromnetzbetreiber zu, hätte Bad Lauchstädt einen entscheidenden Vorteil. In dem Städtchen wird niemand gegen die neue Leitung protestieren – im Rest Deutschlands dagegen schon.

Der Strom-Streit tobt anderswo


(6) Der Wutbürger (Kontrast und Reizwort) ist die größte Sorge der Netzbetreiber beim Bau der drei Stromautobahnen. Allein zum ersten Entwurf des Netzentwicklungsplans Strom gingen im vergangenen Jahr 1500 Kommentare ein. Die Planer erwarten, dass das öffentliche Interesse und die Kritik weiter ansteigt, je näher der Bau der neuen Leitungen rückt. Niemand hat prinzipiell etwas gegen einen Strommast, aber im Garten oder am Haus soll er bitteschön nicht stehen. Die Bundesnetzagentur versucht vorzusorgen. Auf sechs Infoveranstaltungen in betroffenen Regionen informierte sie im vergangenen Herbst über die Vorhaben. Verwaltungsfragen wurden besprochen, aber auch die Auswirkungen der Magnet- und Elektrofelder auf den Menschen und die Natur. Alles sei gut erforscht, versicherten Experten. Grenzwerte böten Schutz, nur wenige Fragen seien offen. Wissenschaftlich kann der Vorwurf, der Elektrosmog der Hochspannungstrassen schade der Gesundheit der Anwohner, nicht gehalten werden. Doch die Skepsis der Bevölkerung ist immer noch da. Sie kann leicht in handfesten Streit ausarten. Eines der bekanntesten Beispiele für diesen Furor ist die nordrhein-westfälische Gemeinde Meerbusch, genauer der Ortsteil Osterath. (konkretes Beispiel) Dort will der Stromnetzbetreiber Amprion Europas größte Konverteranlage bauen. Seit Monaten schäumen die Einwohner.

Die Kinder sind gesund


(7) Rüdiger Schmädicke (Protagonist 3, zweiter Bürger) dagegen streicht lieber den Lattenzaun, der sein Haus an einer Ausfallstraße von Bad Lauchstädt umgibt. Keine 100 Meter neben seinem Haus kreuzt der Hochspannungsstrom. Mehr als 30 Jahre lang wohnt der 52-Jährige nun in dem Haus, in dem seine Frau aufgewachsen ist. Mehr als sein halbes Leben. Er kennt die Bedenken rund um den Elektrosmog (Kasten dazu in der Randspalte), der von der Leitung abstrahlt und die Gesundheit gefährden soll. Ganze Seiten im Internet beschäftigen sich mit diesem Thema. Umweltorganisationen wie der BUND warnen vor möglichen Folgen. Aber bei Schmädicke knackt es nicht im schnurlosen Telefon, Kopfschmerzen hat er keine, seine Kinder seien auch gesund, mittlerweile studieren sie. „Ich bin nicht 100-prozentig davon überzeugt, dass Strommasten für irgendwelche Krankheiten verantwortlich sind", sagt Schmädicke. „Ich habe nie Probleme gehabt." Er will möglichst diplomatisch klingen. Egoismus möchte er niemandem unterstellen, das betont er noch. Doch er findet es verwunderlich, dass viele Menschen sich den Kopf darüber zerbrechen, welchen Weg der Strom quer durch die Republik nehmen soll.

Der Fluglärm nervt


(8) Es ist nicht so, dass die Menschen in Bad Lauchstädt besonders phlegmatisch sind. Hier wird einfach über andere Dinge gestritten. Gerade wird beispielsweise das historische Pflaster auf dem Marktplatz aufwändig wiederhergestellt. Die historischen Quarzit-Quader, die unter dem modernen Asphalt verborgen sind, reichen aber nicht für den Markt-Umbau aus. Neue Steine müssen aus Asien angeschafft werden. Ein Politikum in der kleinen Gemeinde, die ihren Haushalt dafür strapazieren muss. Die Einwohner können fürchterlich über den Fluglärm des nahen Flughafens Leipzig-Halle schimpfen, der entsteht, wenn die Flieger kreisen. Auch der Verkehr durch die Goethestadt ist ein Ärgernis für sie, jetzt wo viele Lastwagen durch den Ort donnern, um Maut zu sparen. Nur der Strom mit hunderttausenden Volt kann eben fließen.

(9) Gerhard Deutschbein (zurück zu Bürger 1) ist gern in seinem Garten. 1000 Quadratmeter hat er zu seinem Reich gemacht. 1000 weitere beackert er mittlerweile zusätzlich, weil so viele Nachbarn ins nahe gelegene Halle gezogen sind. Der Weg zum Supermarkt ist dort nicht so weit. Deutschbein pflegt die Rasenflächen, er kultiviert die Rosen, der Gemüsegarten reift beim Zusehen in diesen sonnenreichen Tagen. Einen Verschlag hat er zur Laube ausgebaut. Erst vor Kurzem hat er Glasfenster eingesetzt, damit die Katze sich nicht hineinstehlen kann. Der Rentner hat es sich gemütlich gemacht. Er genießt den Ruhestand. (anschauliches Idyll) Nichts soll ihn stören. „Wenn das alles stimmen würde, was diese Typen über Elektrosmog behaupten, dann wäre ich doch schon drei oder vier Mal tot", sagt er.

Das Umspannwerk summt im Hintergrund. Das Kribbeln (Klammer zum Anfang) ist noch da.


Wir danken Kai Kollenberg und der Leipziger Volkszeitung für das kostenfreie Überlassen der Rechte.

Die kursivierten Kommentare stammen von Marie Lampert, die den Werkraum Storytelling der ABZV betreut.

 

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Kai Kollenberg ist im Berliner Korrespondentenbüro der Mediengruppe Madsack für Energiepolitik zuständig. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft in Münster volontierte er bei der Leipziger Volkszeitung. Im Anschluss war er dort als Redakteur im Ressort Politik und Zeitgeschehen tätig, bevor er in die Lokalredaktion Muldental wechselte. Dort arbeitete er zuletzt als stellvertretender Redaktionsleiter. Seit 2012 schreibt der 30-Jährige für die Zeitungsgruppe aus der Hauptstadt.

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