Interview

„Eine andere Perspektive einnehmen“

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Proteste gegen die Justizreform in der Stadt Rehovot (Foto: AdobeStock/Oren)
Proteste gegen die Justizreform in der Stadt Rehovot (Foto: AdobeStock/Oren)

Seit mehreren Monaten demonstrieren Zehntausende Israelis gegen die Justizreform, die die rechtskonservative Regierung durchführen will. Wie kann im Lokalen darüber berichtet werden? Interview mit der Politologin Dr. Alexandra Kurth von der Justus-Liebig-Universität Gießen

Frau Dr. Kurth, wie finden Sie die deutsche Berichterstattung über die Proteste gegen die Justizreform?

Prinzipiell ist sie im Vergleich zur sonstigen Berichterstattung erstaunlich positiv. Meinem Eindruck nach wird relativ differenziert über diesen innerisraelischen Konflikt berichtet, ohne dabei, wie man das sonst leider häufig erlebt, in gewisse Stereotype zu verfallen oder gar antisemitische Klischees zu reproduzieren.

Warum wird bei diesem Thema differenzierter berichtet?

Darüber kann ich natürlich nur spekulieren, aber es könnte damit zu tun haben, dass das Thema selbst in sich diese innerisraelische Kontroverse enthält, sodass es schwierig wäre, das Thema mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina zusammenzubringen. Beim Thema Justizreform muss man die Streitigkeiten, Debatten und Kontroversen innerhalb Israels wahrnehmen, und dadurch entsteht ganz automatisch ein differenzierteres Bild. Das ist beim Nahost-Konflikt leider oft nicht der Fall.

Bei der Zeitungsauswertung schien es uns so zu sein, dass im Lokalen relativ wenig über das Thema berichtet wird, also dass es anders als andere weltpolitische Themen eher selten ins Lokale übersetzt wird. Wie könnten Lokalzeitungen hierzulande das Thema aufgreifen?

Ich stimme dem Eindruck zu, auf lokaler Ebene wird das fast gar nicht aufgegriffen. Dabei gäbe es eine ganze Reihe von Aspekten, die fürs Lokale interessant sein könnten. Israel ist ja ein ziemlich kleiner Staat, etwa so groß wie das Bundesland Hessen. Dieser Konflikt um die Justizreform hat ja nicht nur die große Ebene, es geht nicht nur um die Frage, wie das Gericht zusammengesetzt werden soll, wer da wählen darf usw., sondern es wird, egal wie es nun ausgeht, Auswirkungen auf den lokalen Kontext in Israel selbst haben. Zum Beispiel bei der Angemessenheitsklausel, über die ja viel gesprochen wird. Mithilfe dieser Klausel hatte zum Beispiel das Oberste Gericht eine Entscheidung der Regierung verworfen, aus Kostengründen nur ausgewählte Schulen, insbesondere im Grenzgebiet zum Gazastreifen, bombensicher auszubauen. Das Gericht hat dem widersprochen, denn man könne keine Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern machen, sodass die einen entsprechende Klassenzimmer als Schutzräume haben und die anderen nicht. Der Staat sei dazu verpflichtet, das flächendeckend einzuführen. Das hatte natürlich ganz konkrete Auswirkungen auf die lokale Ebene. So etwas könnte eine Lokalzeitung aufgreifen, denn das Thema Ausstattung von Schulen ist ja auch in Deutschland ein Thema, auch wenn es dabei nicht um solche lebenbedrohliche Dinge geht. Man könnte Vergleiche ziehen und eine andere Perspektive einnehmen. Man könnte den Blick über den eigenen lokalen Tellerrand wagen und schauen, wie es anderswo aussieht.

Haben Sie noch andere Ideen für die Berichterstattung?

Man könnte natürlich auch darüber berichten, welche Verbindungen die eigene Region zu Israel hat. Gießen zum Beispiel hat eine Städtepartnerschaft mit Netanya in Israel. Da gibt es einen entsprechenden Freundschaftsverein, es kommt zu Besuchen und Gegenbesuchen, solche Möglichkeiten oder Verbindungen zu Akteuren vor Ort kann man für die Berichterstattung nutzen. Wo es keine Städtepartnerschaften gibt, muss man vielleicht ein bisschen kreativer sein, aber prinzipiell glaube ich, dass man fast überall solche Perspektiven auftun kann.

Könnte es sein, dass die komplizierte Auseinandersetzung, die wir jetzt gerade in Israel erleben, uns in gewisser Weise hilft, unser Israelbild zu verfeinern, weil man sieht, dass es eine vielfältige Gesellschaft mit inneren Widersprüchen ist und nicht so ein monolithischer Block?

Das wäre meine Hoffnung, aber es ist leider nur eine kleine Hoffnung. So ein einzelnes Ereignis reicht sicherlich nicht, tradierte Stereotype vollkommen infragezustellen. Aber wenn man daran anknüpfen würde, auch in der zukünftigen Berichterstattung, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich ein differenzierteres Israelbild ergeben könnte. Andererseits könnte es auch sein, dass sich die Menschen sagen, es ist alles sehr kompliziert, und im Grunde genommen interessiert es mich nicht. Bei einer stereotypen Berichterstattung fühlen sich viele Menschen in dem bestätigt, was sie denken oder an Vorurteilen im Kopf haben. Dagegen ist es immer anstregender, sich selbst infragzustellen und andere, neue Perspektiven zuzulassen. Ich würde natürlich auf eine positive Entwicklung hoffen. Aber dass es auf Dauer zu einer anderen Berichterstattung führt, davon würde ich nicht unbedingt ausgehen.

Interview: Stefan Wirner

Dr. Alexandra Kurth

ist Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen

E-Mail: alexandra.kurth@sowi.uni-giessen.de
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