Interview

„Man kann nicht vorhersehen, was skandalisiert wird."

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Welche Themen werden in Social-Media-Kanälen besonders intensiv besprochen? Unterscheiden sie sich von den Themen der herkömmlichen Medien? Wie verlaufen ihre Konjunkturen? Der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger betreut ein Projekt des Vodafone Institute, bei dem politische Diskurse auf Social-Media-Plattformen analysiert werden. Was sich dabei beobachten lässt, erzählt er im drehscheibe-Interview.

Herr Neuberger, Sie begleiten mit einem Monitoring die politische Social-Media-Welt. Welche Idee steckt dahinter?

Es geht darum, im Wahlkampf zu beobachten, was sich auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen abspielt, wie dort über politische Themen diskutiert wird. Dabei haben wir Twitter und einige Weblogs im Blick, auch andere Bereiche wie Wikipedia, das Forum der Tagesschau und noch ein paar Nachrichtenwebsites.

Zählt da Facebook nicht dazu?

Wir haben das in einer früheren Phase mal probiert. Das Problem ist, vieles spielt sich da nur in einer Halböffentlichkeit ab. Und für unsere Zwecke ist es nicht wirklich spannend, was da passiert. Außerdem gibt es datenschutzrechtliche Fragen. Deshalb haben wir entschieden, dass wir Facebook zunächst raus lassen.

Aber gerade Parteien und Politiker stürzen sich auf Facebook.

Wir sind nicht so sehr daran interessiert, das im Blick zu haben, was die Parteien direkt steuern können. Uns interessiert, was passiert in dem Bereich, in dem sich die Bürger zu Wort melden. Uns geht es um Kanäle, in denen ein Austausch stattfindet.

Wieso lohnt es sich, diese Kanäle im Wahlkampf in den Blick zu nehmen?

Uns interessiert, welche Themen dort behandelt werden, welche Meinungen werden vertreten? Sind es die bekannten Themen und Meinungen, die auch in den Mainstream-Medien auftauchen? Oder kommen darüber hinaus andere Dinge zur Sprache? Erweitert sich dadurch die Themen- und Meinungsvielfalt? Schön ist es, wenn man neue Themen findet, die aus der Blogosphäre oder Twittersphäre aufsteigen und dann den Sprung in die klassischen Medien schaffen. Wie etwa der Hashtag „Aufschrei“. Im Wesentlichen geht es darum, Vergleiche zu ziehen zwischen den verschiedenen Plattformen.

Wie funktioniert das in der Praxis?

Wir sind gerade dabei, die Methoden zusammen mit Informatikern zu entwickeln. Bei uns ist die konventionelle Methode die manuelle Inhaltsanalyse. Man liest einen Text und hält bestimmte Merkmale fest, kodiert diese und erfasst sie in einem Statistikprogramm. Wir können mit Hilfe von Keywordlisten all die Tweets und Blogpostings zusammentragen, in denen bestimmte Wörter auftauchen. Dafür haben wir lange Listen zusammengestellt.

Was steht da drauf?

Erfasst sind Wörter, die sich auf die Bundestagswahlen beziehen, viele Namen von Spitzenkandidaten und politischen Amtsträgern und allgemeine politische Begriffe. Das Schwierigste ist, Schritt zu halten mit Themen, die neu auftauchen. Wir versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben, indem wir neue Keywords aufnehmen. Das ist eine Liste, die fortgeschrieben werden muss.

Haben Sie bei Twitter und Blogs nicht nur eine kleine Gruppe im Blick?

Es ist richtig, dass man via Twitter nur einen relativ kleinen Kreis an Leuten erfassen kann. Das sind dann aber durchaus die Leute, die Sachen weiterverbreiten. Twitternutzer haben eine hohe Medien- und Internetaffinität. Es sind viele Journalisten darunter. Wir wissen aus einer Redaktionsbefragung, dass Twitter weniger dazu dient, Fakten oder Hintergrundinformationen zu sammeln. Journalisten geht es darum, Stimmungslagen zu erfassen oder zu sehen: Da entwickelt sich ein neues Thema, ein neuer Trend.

Was beobachten Sie konkret?

Wir werden den gesamten Zeitraum bis zur Bundestagswahl erfassen und ein bisschen darüber hinaus. Wir werden uns einzelne Themenkarrieren vornehmen, ebenso die Frage, inwieweit sich Meinungsbildungsprozesse abgespielt haben. Auch das Verhältnis zu den klassischen Massenmedien interessiert uns. Das ist ein Feld, das bisher kaum bestellt ist. Das Agenda-Setting, die Frage nach der Rangordnung von Themen, konnte früher immer nur sehr punktuell erfasst werden. Jetzt können wir Themen im Internet fortlaufend beobachten. Wo kommt ein Thema auf, wohin wird es weitergetragen? Welche Positionen werden vertreten? Gibt es Meinungsumschwünge? Diese Fragen bewegen uns.

Auch Politiker fragen sich ständig, wie und auf welchen Kanälen sie die Menschen erreichen. Die werden die Ergebnisse aufmerksam beobachten.

Es gibt große Illusionen, wie man Themenkarrieren im Internet steuern kann. Da gibt es so Zauberwörter wie „virales Marketing“, wo man den Eindruck hat, man müsste nur die richtigen Knoten finden im Netz und könne dann seine Botschaften streuen. Das ist alles sehr viel komplexer, als es in der alten Medienwelt war. Früher hatte man eine kleine Zahl von Redaktionen, die relativ mächtig waren, die nach professionellen Regeln gearbeitet haben, so dass sie auch von außen vergleichsweise gut berechenbar waren. Das ist in den sozialen Medien nicht mehr der Fall. Man kann nicht vorhersehen, wer und was skandalisiert wird, was sich mit welchem Tempo und mit welcher Reichweite verbreitet. Dass das mit dem Hashtag "Aufschrei" funktionieren würde, hätte vorher wohl niemand vermutet.

Können Journalisten von dem Projekt profitieren?

Ganz sicher. Es gibt im Netz so viele frei verfügbare Tools, mit denen man die Resonanz auf die eigenen Beiträge oder auch generell Themenkonjunkturen beobachten kann. Man kann damit näher an das Publikum herankommen. Man sieht über die Klickzahlen, was funktioniert und was nicht. Man kann beobachten, wie über das eigene Medium geschrieben wird, wie die Artikel kommentiert werden.

Würden Sie sagen, dass Journalisten die Möglichkeiten zu wenig nutzen?

Das ist natürlich alles beschränkt durch die ökonomischen Spielräume, die nicht mehr so groß sind. Ich denke, dass gerade bei den Interaktionsmöglichkeiten noch vieles verschenkt wird. Echte Diskussionen, die seitens der Redaktion angestoßen und moderiert werden, findet man kaum. Ich denke, es ist gerade für das Überleben von lokalen und regionalen Zeitungen wichtig, dass sie kommunalpolitische Themen nicht nur selbst kommentieren, sondern im Internet diskutieren lassen.

Interview: Robert Domes

Kontakt

Prof. Dr. Christoph Neuberger lehrt seit 2011 am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Er studierte Journalistik, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie. Nach der ersten Station an der Katholischen Universität Eichstätt war er Professor in Leipzig und an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Web: Ifkw.uni-muenchen.de

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