Interview

Neue Geschichten in Daten finden

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Datenjournalismus hat in der Pandemie an Bedeutung gewonnen, sagt Annika Sehl. (Foto: AdobeStock/Andrey Popov)
Datenjournalismus hat in der Pandemie an Bedeutung gewonnen, sagt Annika Sehl. (Foto: AdobeStock/Andrey Popov)

Frau Sehl, Sie befassen sich wissenschaftlich unter anderem auch mit Datenjournalismus im Lokalen. Wie intensiv nutzen Lokalzeitungen diese Möglichkeiten? War Corona eine Art Booster für Datenjournalismus im Lokalen?

Dazu liegen keine belastbaren Erhebungen vor, aber tatsächlich kann man beobachten, dass Datenjournalismus im Lokalen während der Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen hat. Die Menschen interessieren sich in der Pandemie natürlich sehr stark für Zahlen, es wird viel quantifiziert, zum Beispiel die Entwicklung der Inzidenzwerte, der Hospitalisierungsraten oder der Impfquoten. Es sind im Zuge dessen auch viele Datensätze entstanden, die Redaktionen nutzen können. Und ich denke auch, dass dieser „Booster“ im übertragenen Sinne auch weiter anhält. Dennoch gibt es auch noch viel Luft nach oben. Das betrifft nicht nur die Verbreitung von Datenjournalismus, sondern auch das Ausschöpfen seines Potenzials. Datenjournalismus heißt eben nicht, dass man nur ein paar Daten visualisiert, die vom Statistischen Bundesamt oder vom Robert-Koch-Institut herausgegeben werden. Sondern es bedeutet vor allem, dass man neue Ansätze für die Berichterstattung darin sucht, neue Geschichten in den Daten findet. Das kann gerade auch im Lokalen einen Mehrwert bieten kann.

Welche Themen werden im Lokalen datenjournalistisch bearbeitet?

Es gibt verschiedene Arten von datenjournalistischen Geschichten, die im Lokalen erzählt werden können. Beispielsweise solche, die besonders demokratierelevant sind. Etwa wenn man sich ansieht, wie viele Anfragen es im Gemeinde- oder Stadtrat zu bestimmten Themen gab oder wie viel öffentliche Gelder in welche Bereiche geflossen sind. Außerdem spielt der ganze Servicebereich eine große Rolle, Projekte, die den Menschen helfen, sich in ihrer lokalen Umwelt besser zurechtzufinden.

Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Ein älteres, aber nach wie vor relevantes Beispiel, wie man mit einer originellen Idee einen Service-Mehrwert im Lokalen schaffen kann, ist der „MVV-Gehzeitenplan“ von Benedikt Witzenberger aus dem Münchner Merkur und der tz. Er hat anhand der U- und S-Bahn-Karte von München gezeigt, ab wann es sich beim Ausfall oder bei der Verspätung einer Bahn lohnen würde, zu Fuß zu gehen. Das Thema Verkehr bietet sich für datenjournalistische Fragestellungen besonders an.

Was sind die Gründe dafür, dass im Lokalen längst noch nicht alle datenjournalistischen Möglichkeiten genutzt werden? Besteht noch immer eine Art Scheu?

Es gibt sicherlich bei einigen Journalistinnen und Journalisten eine gewisse Scheu vor Daten und Statistik. Was man gesichert weiß, ist, dass es in Regional- oder Lokalredaktionen häufig keine explizit auf Datenjournalismus spezialisierte und ausschließlich dafür abgestellte Personen gibt. Gerade in kleineren Redaktionen. Und ein Team, das vielleicht aus Programmierern und Grafikern etc. besteht, gibt es in der Regel erst recht nicht. Es ist dann oftmals so, dass man in diesen kleinen Redaktionen aufgrund der Initiative von Einzelnen mal ein datenjournalistisches Projekt macht. Es fehlt vor allem die Konstanz.

Ist es im Lokalen schwieriger, an Daten heranzukommen?

Ja und nein. Es gibt auch genug lokale Datensätze, das sollte kein Hinderungsgrund sein. Aber je weiter man es herunterbricht bis ins Hyperlokale, umso komplizierter wird es unter Umständen. In Großstädten ist es wahrscheinlich oft einfacher. Außerdem kann es sein, dass die Daten zum Beispiel aus verschiedenen Landkreisen, von verschiedenen Kommunen etc. in unterschiedlichen Formaten vorliegen, sodass es viel Vorarbeit erfordert, wenn man sie vergleichen will.

Oder dass Datensätze per Fax geschickt werden.

Auch so etwas soll es geben. …

Daten könnten ja in einer Zeit, in der Verschwörungstheorien kursieren, eine wichtige Rolle spielen.

Absolut, wenngleich bestimmte Zielgruppen, die an Verschwörungstheorien glauben, mit Fakten nur noch schwer zu erreichen sind. Aber in einer Zeit der Unsicherheit gewinnen Formate, die mit Daten und Fakten arbeiten, bei einem Großteil der Bevölkerung sicherlich an Bedeutung. Es gibt immer häufiger Faktenchecks, die natürlich gezielt auch mit Daten arbeiten. Datenjournalismus kann hier eine Möglichkeit sein, die Berichterstattung mit Fakten zu unterfüttern, und so auch dazu beitragen, die Glaubwürdigkeit des Journalismus zu stärken.

Also würden Sie den Verlagen raten, in den Bereich zu investieren?

Das würde ich sagen, ja. Ich würde das nicht ausschließlich auf den Datenjournalismus beziehen. Aber gerade mit Datenjournalismus lässt sich für die Leserschaft ein Mehrwert erzielen, der dann möglicherweise auch dazu führt, dass die Menschen bereit sind, dafür zu bezahlen. Ich glaube, dass Datenjournalismus eine Zukunft hat. Wir leben in einer immer stärker quantifizierbaren Welt, in der Daten in vielen Bereichen eine große Rolle spielen. Das wird auch nach der Corona-Pandemie so sein. Allerdings wird nicht jede Redaktion in Zukunft ein Team für Datenjournalismus haben und all das leisten können. Er wird eher in den mittelgroßen und großen Redaktionen angesiedelt sein. Aber der Datenjournalismus als ein Element im journalistischen Baukasten wird sich sicherlich immer mehr etablieren. Kooperationen können in diesem Zusammenhang ein Weg sein, dass auch kleine Redaktionen hier profitieren können. Es braucht nur den Mut, damit anzufangen.

Interview: Stefan Wirner

Das Interview erschien zuerst in der Ausgabe 1/2022 der drehscheibe. Zur Ausgabe

 

Zum Nachören und Nachlesen

Im November 2020 sprachen wir für unseren Podcast drehmoment mit Annika Sehl über Datenjournalismus. Zum Podcast.

Ein weiteres Interview mit Annika Sehl zu Beginn der Corona-Krise finden Sie hier.

Prof. Dr. Annika Sehl

ist Professorin für Digitalen Journalismus am Institut für Journalistik der Universität der Bundeswehr München.

E-Mail annika.sehl@unibw.de

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