Leseranwalt

Emotionen gehören dazu

von

Aus drehscheibe 06/2022

„Von Journalisten und meiner Zeitung erwarte ich Fakten und gut recherchierte Informationen, nicht mehr und nicht weniger.“ So kritisierte ein Leser der Main-Post den Kurzbericht „Besorgnis über Selenskyjs Aussehen/Krieg hinterlässt Spuren in den Gesichtern“ mit einem Foto, das den ukrainischen Präsidenten mit einem wohl bereits vom Krieg gezeichneten Gesicht zeigt. Er fährt fort: Weder Inhalt noch Botschaft würden diesen Beitrag rechtfertigen. Der Leser fragt sich, warum er überhaupt geschrieben worden ist.

Im Artikel ist zu lesen, dass sich im Internet viele Menschen besorgt über Selenskyjs Aussehen (mit Augenringen) bei dessen Besuch in Butscha gezeigt haben. Sie hatten den aktuell von Schmerz gezeichneten Anblick mit einem anderen Foto des Präsidenten, entstanden noch vor dem Krieg, verglichen. Ähnliche Empfindungen von Leserinnen und Lesern beim Betrachten des Kriegsfotos des Präsidenten sind auch in dieser Redaktion eingegangen.

Die Besorgnis über das Aussehen des Präsidenten könne er nicht teilen, schreibt der Mann. Außerdem stellt er klar, dass er sich zwar um Menschen sorge, die in diesem Krieg leben müssen, aber doch nicht um deren Aussehen. Diese und seine weitere Kritik habe ich seinen Zeilen entnommen.

Die Erwartungen des Mannes an gute Recherchen kann ich nachvollziehen. Und dennoch: Auch das Spiegeln von Stimmungen und Emotionen ist seriöser Journalismus. Gerade während dieses Krieges werden sie zu bedeutsamen Informationen – so man sich ihrer sicher sein kann. Sie sind eine Kriegsfolge. Stimmungen zeigen die jeweilige Haltung an. Denn wir sind längst Beteiligte, auch ohne an einer Kampffront zu stehen oder uns angstvoll in Kellern vor Bomben und Raketen zu verstecken. Es geht deshalb um viel mehr als um Grafiken von Truppenbewegungen und die Dokumentation der damit verbundenen Gräuel und Zerstörungen. Es geht um Unterstützung.

Werden die Stimmungen, wie im geschilderten Fall, von der Deutschen Presseagentur (dpa) beschrieben, dürfen wir davon ausgehen, dass sie solide überprüft worden sind. Wir verlassen uns bei der Agentur auf ihr journalistisch verantwortungsvolles Handeln. Ein Thema, das im Internet auffiel, war die oft geäußerte Besorgnis von Menschen um Präsident Selenskyj. Und trotz aller Unsicherheiten und falscher Meldungen, die das weltweite Netz leider in sich trägt, spielt sich darin ein gewichtiger Teil der Wirklichkeit ab, der nicht übergangen werden darf. Wir sollten aber nicht jede Emotion, die auf Social-Media-Plattformen geäußert und diskutiert wird, auf die Goldwaage legen. So sind manche Darstellungen der Person Wolodymyr Selenskyj, etwa als ein „echter Kämpfer“, die laut Artikel hunderttausendfach „Gefällt mir“-Angaben erhielten, vordergründig nur Gefühle. Fakt ist jedoch, dass sie massenhaft geäußert und zählbar samt Reaktionen wahrgenommen wurden. Daraus ist die in dieser Zeitung erschienene Nachricht entstanden.

Der Leser hat noch weitere Anmerkungen zum Krieg in der Ukraine: Zu oft lese er davon, dass unser Lebensstandard bedroht sei. Dabei müssten wir doch anerkennen, dass es nichts umsonst gibt. Auch der Friede werde uns etwas kosten. In diesen Worten mag seine Bewertung der Nachrichtenlage stecken und die Botschaft, die er ihr entnimmt.

Klar dürfte aber uns allen sein, was damit auch gesagt ist: Tod und Zerstörung in der Ukraine müssen uns nahe gehen. Sie verlangen auch hierzulande Opfer. Politisch und wirtschaftlich sind wir Beteiligte, zusammen mit ganz Europa. Da sollte das Echo vieler Menschen auf das Gesicht Selenskyjs, das wenigstens etwas von der Grausamkeit des Krieges spiegelt, als Nachricht wahrhaftig nicht zu viel sein. Die Opfer des Krieges, die bei uns Schutz finden, haben wesentlich Schmerzhafteres zu berichten.

Dieser Text wurde gekürzt und redaktionell bearbeitet. Der vollständige Beitrag erschien in der Zeitung Main-Post.

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

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