Leseranwalt

Trau, schau, wem!

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Aus drehscheibe 01/2023

In einem Leserbrief geht ein Leser knallhart mit dem Bundeswirtschaftsminister ins Gericht – und ruft, um seinen Ansichten Gewicht zu verleihen, einen Professor als Fachmann in den Zeugenstand. Was er nicht erwähnt: Der von ihm zitierte Ökonom engagiert sich in einem AfD-Kreisverband. Dies zu verschweigen, hält eine andere Leserin für bedenklich. Sie finde es generell schwierig, schreibt sie der Redaktion, „wenn Leser in ihren Zuschriften vermeintliche ,Experten‘ zitieren, die aber eine politische Agenda verfolgen – was man freilich erst mal wissen muss“. Wer grundsätzlich die Meinung des Schreibers teile, zweifle vermutlich eher nicht, sondern fühle sich durch zitierte Wissenschaftler objektiv bestätigt. „Das Prinzip der Filterblase.“ Daher wäre es aus ihrer Sicht gut und richtig, solche Leserbriefe mit einer redaktionellen Anmerkung zu versehen – oder entsprechend zu kürzen.

Quellen werden beim Redigieren der Leserbriefe prinzipiell überprüft. Sind sie seriös? Sind es die Fakten auch? Wenn sich beispielsweise jemand auf das Europäische Institut für Klima & Energie (Eike) beruft, haben Tatsachenbehauptungen selten oder nie Bestand, denn Eike ist kein wissenschaftliches Institut, keine europäische Instanz, sondern eine Lobbyorganisation, die den wissenschaftlichen Konsens über die menschengemachte globale Erwärmung leugnet. Im Fall der Ministerschelte hat der Faktencheck Folgendes ergeben: Der zitierte Ökonom existiert, ist Hochschullehrer und außerhalb des Verbreitungsgebietes der Zeitung auf Kreis­ebene parteipolitisch aktiv. Kaum jemand aus der Leserschaft dürfte ihn kennen – und das war letztlich auch nicht nötig, um die Polemik als Polemik zu verstehen.

Als Debattenbeiträge stehen Leserbriefe für sich und sind urheberrechtlich geschützt. Die Weltanschauung eines zitierten Experten in einer redaktionellen Anmerkung innerhalb eines Leserbriefes zum Thema zu machen, verbietet sich. Den Satz zu streichen, wäre zwar möglich gewesen, da sich die Redaktion Kürzungen ausdrücklich vorbehält. Das Zitat aber war durch die Meinungsfreiheit gedeckt und dürfte es der Leserschaft erleichtert haben, den Leserbrief politisch einzuordnen. Wer mehr wissen will, googelt – wie die aufmerksame Leserin, ein „Fan des Lokaljournalismus“.

Bleibt die Gretchenfrage, wie es um die Medienkompetenz anderer Leserinnen und Leser steht und wie ausgeprägt ihr Respekt vor der Wissenschaft ist. Wird die Einschätzung eines Professors wirklich noch als unumstößliche Wahrheit gesehen? Die Antwort wäre vor Jahrzehnten anders ausgefallen als heute. In Teilen der Öffentlichkeit herrscht längst eine ausgeprägte Wissenschaftsskepsis. In Filterblasen zählen Mythen mehr als Sachbeweise. Objektives von Subjektivem, Seriöses von Halbseidenem zu unterscheiden, Meinungen zu hinterfragen, wird zur Kernkompetenz in der Demokratie. Trau, schau, wem!

Glücklicherweise diskreditieren sich moderne Scharlatane und Demagoginnen im Laufe der Zeit selbst, indem sie immer wieder Behauptungen von sich geben, die keinem Faktencheck standhalten. Das spricht sich dann sehr schnell herum. Auch dank journalistischer Recherche und Kommentierung.

Monika Felsing

Autorin

Monika Felsing ist Feedback-Redakteurin von Weser-Kurier und Bremer
Nachrichten.

Telefon: 0421 – 36 71 37 15
E-Mail: monika.felsing@weser-kurier.de

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