Leseranwalt

Vorsicht bei haltlosen Vorwürfen

von

Aus drehscheibe 02/2021

Es passiert leicht, dass Kummer oder gar Wut den Angehörigen von Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, die Feder führt. Mich erreichte die Mail eines Lesers, in der er seine Wut zum Ausdruck bringt. Der von ihm namentlich genannten Leitung einer Senioreneinrichtung, in der eine Verwandte von ihm erkrankt war, wirft er schwere Versäumnisse und Inkompetenz vor. Das gipfelt in seiner Frage: „Wie viele Menschen mussten sterben, weil diese Person ihre Arbeit nicht gemacht hat?“

In der Frage steckt die Behauptung, dass sich die genannte Person einer so schwerwiegenden Pflichtverletzung schuldig gemacht habe, dass diese zum Tod von Menschen führen konnte. Durch den Bezug auf Todesfälle entsteht ein schlimmer Vorwurf. Der Leser zählt Maßnahmen auf, die aus seiner Sicht versäumt wurden.

Bei einer Veröffentlichung der anklagenden Zuschrift als Leserbrief kann sich die darin beschuldigte Person in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, im schlimmsten Fall verleumdet sehen. Sie könnte deshalb den Rechtsweg beschreiten, vor allem dann, wenn die Beschuldigungen nicht nachzuweisen sind. Der Absender kann zumindest kostenpflichtig auf Unterlassung in Anspruch genommen und möglicherweise wegen Verleumdung angezeigt und zu Schadensersatz verurteilt werden.

Auf diese mögliche Folge habe ich den Absender hingewiesen. Daraufhin verzichtete er selbst auf den Leserbrief, der wohl auch von der Redaktion nicht veröffentlicht worden wäre. Was aber, wenn doch? Hätte die Redaktion dann ebenfalls gehaftet, obwohl man durchaus ein öffentliches Interesse an den Vorwürfen gegen die Leitung einer Senioreneinrichtung sehen kann? Dazu muss man wissen, dass dieses Informationsinteresse bei Gerüchten, beleidigenden beziehungsweise kreditschädigenden Äußerungen oder Schmähkritik entfällt. Das gilt gleichermaßen für Leserbriefe, obwohl die darin vertretenen Meinungen grundsätzlich als die des Absenders gelten (siehe Handbuch des Presserechts Ricker/Weberling, Kap. 41/17a).

In diesem Fall würde es aber in dem Leserbrief nicht mehr nur um Meinung, sondern um eine Tatsachenbehauptung gehen. Eine Person oder Institution wird ohne ausreichenden Beweis unübersehbar schwer beschuldigt. Die Kennzeichnung als Leserbrief reicht nicht aus, um sich als Redaktion vom Inhalt zu distanzieren. Den unbewiesenen schweren Vorwurf muss die Redaktion erkennen. Er liegt nicht unterhalb ihrer Wahrnehmungsschwelle. Die Verbreiterhaftung könnte eintreten.

„Wäre“, „hätte“ und „würde“ dürfen für Journalisten kein „Ist“-Zustand bleiben. Wenn für eine Redaktion eine Veröffentlichung belastender Äußerungen, die von öffentlichem Interesse sind, wegen fehlender Nachweise nicht möglich ist, erwächst ihr daraus die journalistische Verpflichtung, selbst zu recherchieren. Das heißt, dass es nie umsonst sein sollte, Redaktionen auch auf unbewiesene Unregelmäßigkeiten hinzuweisen, die von öffentlichem Interesse sein können. Nicht nur die Überprüfung liegt danach in journalistischer Verantwortung, sondern auch der Schutz der Informanten.

Erfreuliches zum Schluss: Der zitierte ­Leser hat mir mitgeteilt, dass seine in der ­Senioreneinrichtung erkrankte Verwandte wieder gesund geworden ist.

Der Text erschien erstmals auf Mainpost.de am 26. November 2020.

 

Anton Sahlender

Autor

Anton Sahlender war von 1988 bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Main-Post. Seit 2004 ist er Leseranwalt der Zeitung und kümmert sich um die Interessen der Leser.

Telefon: 0170 – 836 28 80
Mail: anton.sahlender@mainpost.de

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