Alte Tat, neuer Ärger
von Gastautor
aus drehscheibe 14/2024
Der Fall
Viele Lokalzeitungen erinnern ihre Leser gern an die spannendsten Geschichten des Ortes – auch die Zeitung, um die es bei diesem Fall geht. Unter der Rubrik „Vor 50 Jahren“ veröffentlichte sie einen alten Artikel erneut, der von einem Mordfall berichtete. Dort enthalten: der vollständige Vor- und Nachname des damals 17-jährigen Täters. Der heute über 60-Jährige wendet sich an den Deutschen Presserat: Die Nachricht habe ihn emotional stark belastet – nach Jahrzehnten werde er erneut mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Angehörige seien im Ort schon auf den Artikel angesprochen worden, seine Schwester habe ihn daraufhin auf die Veröffentlichung aufmerksam gemacht. Er kritisiert, dass sein voller Name ohne seine Zustimmung erneut veröffentlicht wurde. Er und seine Familie hätten ein Recht auf „Vergessenwerden“.
Die Redaktion
Die betroffene Zeitung räumt den Fehler ein. Die Rubrik greife regelmäßig historische Artikel von lokalem Interesse auf, schreibt der Leiter Regio in einer Stellungnahme. Ein freier Mitarbeiter habe aus dem Lokalarchiv besonders auffällige Meldungen ausgewählt – darunter auch diesen Artikel. Dabei sei bedauerlicherweise der volle Name des damals jugendlichen Täters übernommen worden. Die Redaktion entschuldigt sich ausdrücklich für den Fehler und spricht dem Betroffenen ihr Bedauern aus.
Das Ergebnis
Der Beschwerdeausschuss des Presserats bewertet die Veröffentlichung als Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, die den Schutz der Persönlichkeit regelt. Die vollständige Namensnennung macht den Betroffenen eindeutig identifizierbar. Nach einem Zeitraum von 50 Jahren überwiegen jedoch klar dessen Resozialisierungs- und Anonymisierungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Informationsinteresse. Aufgrund der Schwere des Verstoßes spricht der Ausschuss eine Rüge gegen die Redaktion aus – die schärfste Maßnahme des Presserats. Es handelt sich allerdings um eine sogenannte nicht-öffentliche Rüge: Die Redaktion hat diese Rüge nicht abzudrucken – zum Schutz des Betroffenen.
Der Kodex
Richtlinie 8.1 – Kriminalberichterstattung
(1) An der Information über Straftaten, Ermittlungs und Gerichtsverfahren besteht ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Es ist Aufgabe der Presse, darüber zu berichten.
(2) Die Presse veröffentlicht dabei Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täterinnen und Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt. Bei der Abwägung sind insbesondere zu berücksichtigen: die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des Vorwurfs, der Verfahrensstand, der Bekanntheitsgrad der Verdächtigen oder Täterinnen und Täter, deren früheres Verhalten und die Intensität, mit der sie die Öffentlichkeit suchen. (...)
(3) Wenn erneut über ein zurückliegendes Strafverfahren berichtet wird, sollen im Interesse der Resozialisierung in der Regel Namensnennung und Fotoveröffentlichung der Täterin oder des Täters unterbleiben. (...)
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