Die Menschenwürde abgesprochen
von Sonja Volkmann-Schluck
aus drehscheibe 06/2025
Der Fall
Eine Zeitung druckt unter dem Titel „Fragen über Fragen“ einen Leserbrief zu einem Vorfall ab, bei dem ein wegen eines besonders brutalen Verbrechens verurteilter Straftäter während eines Ausgangs aus einem Kino floh. Der Mann soll einen Obdachlosen enthauptet und mit mehr als 100 Messerstichen getötet haben. Der Leser hinterfragt in seinem Leserbrief das Konzept des Ausgangs für Gefangene. In einem Satz setzt er Fragezeichnung hinter das Wort „Mensch“: „Als erstes wäre da, warum ein Mensch (?), der jemanden mit 111 Messerstichen getötet hat und ihn anschließend köpfte, bei uns die Wohltaten der Medizin genießt und nicht unmittelbar nach der Tat dahin gebracht wurde, wo er hingehört – nach Somalia zurück mit One-Way-Ticket.“ Die Beschwerdeführerin sieht einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex. Das Fragezeichen hinter dem Wort „Mensch“ spreche dem Straftäter sein Menschsein und seine Menschenwürde ab.
Die Redaktion
Die stellvertretende Chefredakteurin der Zeitung bedauert, dass man das Fragezeichen hinter dem Wort „Mensch“ im Leserbrief nicht entfernt habe. Das sei ein Versehen, dass im Online-Artikel bereits korrigiert worden sei. Den Leserbrief selbst halte die Redaktion für weitgehend unproblematisch.
Das Ergebnis
Mit dem Fragezeichen hinter dem Wort „Mensch“ stellt der Autor des Leserbriefs die Menschenwürde des Straftäters in Frage. Redaktionen müssen auch bei der Veröffentlichung von Leserbriefen die publizistischen Grundsätze beachten. Dazu gehört die Achtung der Menschenwürde nach Ziffer 1 des Pressekodex. Das stehengelassene Fragezeichen bewertet der Beschwerdeausschuss dabei als Einschnitt in die Menschenwürde des Straftäters.
Der Kodex
Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde
Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.
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