Vorsicht vor den Mustermännern
von Gastautor
aus drehscheibe 12/23
Der Fall
Eine Lokalzeitung berichtet online, dass mehr Menschen Crack nehmen. Sie spricht mit einem Drogenabhängigen, dem sie ein Pseudonym gibt. Dass es sich nicht um den echten Namen handelt, legt die Redaktion erst hinter der Paywall offen – im kostenlos zugänglichen Teaser wird das Pseudonym für den Drogenabhängigen aber bereits verwendet. Was die Redaktion nicht ahnte: Es gibt einen Mann, der aus der gleichen Region stammt und ebendiesen Namen trägt. Kurz nach der Berichterstattung reicht dieser Mann eine Beschwerde beim Presserat ein. Er erklärt: Wenn man seinen Namen bei Google eingebe, tauche der Artikel über den Drogenkonsum nun als eines der ersten Suchergebnisse auf. Da sein Name manchen Lesern bekannt sein könnte, könnte der Artikel dem Ansehen seiner Person nachhaltig schaden. Der Name ist weder ein „Allerweltsname“ wie Müller oder Schmidt noch ein „Fantasiename“ wie Mustermann.
Die Redaktion
Die stellvertretende Chefredakteurin der Zeitung betont, dass man die Identität des Interviewpartners schützen wollte. Ihrer Stellungnahme zufolge wurde bewusst kein „Fantasiename“ ersonnen, sondern ein authentisch klingender deutscher Name. Er sollte den Schutzauftrag erfüllen, ohne den Wahrheitsanspruch oder den Stil der Berichterstattung zu beeinträchtigen. Dass es sich bei dem gewählten Namen dennoch um den einer real existierenden Person handle, die zudem laut eigenen Angaben ursprünglich aus dem gleichen Kreis stamme, sei ein seltener, unglücklicher Zufall, den man bedauere, heißt es in dem Schreiben. Der Beschwerdeführer habe sich per E-Mail auch an die Redaktion gewandt. Man habe umgehend reagiert und den Namen und die Suchmaschineneinträge geändert.
Das Ergebnis
Der Redaktion steht es frei, welchen Namen sie für ein Pseudonym wählt. Die Sorgfalt gebietet es jedoch, dies unmittelbar – das heißt schon bei der ersten Verwendung im Teaser vor der Paywall – deutlich zu machen, zum Beispiel in Klammern mit dem Hinweis „Name geändert“. Der Beschwerdeausschuss stellt eine Verletzung von Ziffer 2 des Pressekodex fest. Der Verstoß ist aufgrund des großen Stigmas für den Beschwerdeführer so heftig, dass der Presserat eine Rüge ausspricht.
Kodex
Ziffer 2 – Sorgfaltspflicht
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.
Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.
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