Storytelling April 2014 Kommentar

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Stil und Struktur

Dietmar Telsers Geschichte konfrontiert uns auf leichtfüßige Art mit unserer nationalen Identität und der politischen Diskussion zur Einbürgerungspolitik. Sie bezieht ihre Kraft aus Stil und Struktur. Von Marie Lampert

Stil


Stil sei eine der großen unerschlossenen Ressourcen im Journalismus. Das behauptet der Schweizer Journalist und Blogger Constantin Seibt. Und weiter:  Der Ton einer Geschichte sei die Hälfte der Botschaft. Telsers Text zeigt genau das. Der Stil macht den Ton und der Ton die Musik. Anmerkungen zum Stil unterliegen den gefetteten Worten im Text.

Die Struktur der Heldenreise


Die Struktur ist ein weiterer Grund, warum Telsers Text so gut funktioniert. Sie entspricht einem archaischen Erzählmuster. Christopher Vogler, Drehbuchautor in Hollywood, hat es unter dem Begriff der „Heldenreise“ populär gemacht hat. Das Muster geht zurück auf Studien des Mythenforschers Joseph Campbell. Campbell hat Legenden, Märchen, Mythen und Sagen vieler Völker und Zeiten verglichen hat, um so etwas wie eine universale „Urgeschichte“ zu finden. Er fand sie. Die Filmindustrie arbeitet damit – von Star Wars bis Harry Potter – weil sie Erfolg verspricht. Die Urgeschichte als Blaupause erzeugt Spannung und Mitgefühl, weil das Publikum sich in ihr wiederfindet.
Sämtliche Stationen der Heldenreise lassen sich mehr oder weniger explizit in Telsers Geschichte identifizieren. Die Nummerierung in der Illustration von Brigitte Seibold zeigt, wo Telsers Handlungsfolge von der Hollywood-Vorlage abweicht.

Die 12 Stationen der Heldenreise:

 

 

Station 1– Gewohnte Welt: Der Held erscheint in seinem vertrauten Umfeld.

 

Im ersten Absatz erscheint der Ich-Erzähler in seiner Rolle als Redakteur. Er beschreibt „die Welt“ – vertreten durch Griechenland, Italien und England – und ihren Blick auf Deutschland.

Station 2  – Ruf des Abenteuers/ Berufung: Der Held erlebt einen Mangel oder wird vor eine Aufgabe gestellt.

Von Mangel bzw. seinen Wünschen erzählt der Protagonist im vierten Absatz. Er will wählen, er will nicht komisch angesehen werden, er will das Gefühl haben, dazuzugehören. Deshalb entscheidet er sich für das Abenteuer einer Einbürgerung. Er stellt sich außerdem eine Zusatzaufgabe: Er wird den Lesern seiner Zeitung von seinem Abenteuer erzählen.

Station 5a – Überschreiten der Schwelle: Der Held betritt die andere Welt.

Genau genommen ist die Station „Überschreiten der Schwelle“ zweigeteilt. Schon im Absatz 3 macht sich der Held auf den Weg zu Herrn Mehlem in den Stadtteil  Rauental.

Station 3  – Weigerung: Der Held zögert.

Auf dem Weg zum Einbürgerungsbüro erblickt der Held ein Sinnbild für das „Labyrinth der deutschen Bürokratie“ – Türme von Aktenordnern und zerfleddertem Papier. „Und ich möchte eigentlich sofort wieder umdrehen“ (Absatz 3).

Station 4 – Ermutigung: Ein Mentor überredet ihn, die Reise anzutreten.

Der Held überwindet sein Zögern mit Hilfe eines Mentors – Herr Mehlem erwartet ihn bei geöffneter Tür und mit einem Lächeln – und hilft ihm so über die Schwelle (Absatz 4).

Station 5b – Überschreiten der Schwelle: Der Held betritt die andere Welt.

Der Held kommt ins Büro, Herr Mehlem fädelt ihn endgültig in den Einbürgerungsparcours ein, indem er seinen Namen in den PC eingibt (Absatz 4).

Station 6 – Prüfungen: Er trifft auf Feinde und Hindernisse, findet aber auch Verbündete.

Die ersten Prüfungen – geschildert in den Absätzen 13 und 14 – bestehen im Beschaffen der nötigen Papiere und Erfüllen von Formalia. Herr Mehlem erweist sich als kundiger Verbündeter, erläutert dem Helden die Anforderungen und besorgt seinerseits Stellungnahmen der Behörden.

Station 7– Zweite Schwelle: Der Held kommt ins Zentrum des Konflikts, er trifft dort seinen schlimmsten Feind.

In der Sprachschule muss der Held die entscheidende Prüfung bestehen. Er ist gut vorbereitet, damit nichts schief geht. Wissentlich macht er seine Kreuzchen an der falschen Stelle – „Welche Religion hat die europäische und deutsche Kultur geprägt?“ (Absatz 21)

Station 8 – Äußerste Prüfung: In einem existentiellen Kampf bezwingt er seinen Widersacher und erobert, was er braucht, um seine gewohnte Welt in Ordnung zu bringen.

Der Held widersetzt sich den Anweisungen der Prüfungsaufseherin, sein Foto vom Fragebogen zu löschen. Das Foto braucht er, um seine Nebenmission zu erfüllen. Er will ja einen bebilderten Artikel über seine Einbürgerung verfassen (Absatz 21 bis 26).

Station 9 – Belohnung: Der Held ergreift aktiv das Gut, das ihn bewog, loszuziehen, im übertragenen Sinn auch eine neu erworbenen Fähigkeit.

Das Gut ist die deutsche Staatsbürgerschaft, die aktive Handlung des Helden, die unverlangt ausgesprochene Erklärung: „... dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte“ (Absatz 33).

Station 10  – Rückweg: der Held geht den Weg zurück, er muss u. U. wieder mit Verfolgung oder Prüfungen rechnen.

Während der Held Urlaub macht und seine Belohnung noch aussteht, gerät er in Streit mit italienischen und deutschen Freunden und „sitzt zwischen den Stühlen“ (Absatz 28-29).

Station 11 – Auferstehung (die dritte Schwelle): Der Held kommt als veränderte, geläuterte Persönlichkeit zurück.

Die Prüfungen sind bestanden, der Held hat sein Ziel erreicht, er ist Deutscher, hat zwei Staatsbürgerschaften in der Tasche und ist Besitzer eines Gartenzwerges geworden (Absatz 34).

Station 12  – Rückkehr mit dem Elixier: Er nutzt die gewonnenen Fähigkeiten, Erkenntnisse, das neue Gut, um seine alte Welt ins Gleichgewicht zu bringen.

Vom Einbürgerungsabenteuer bringt der Held außer dem neuen Pass auch einen Artikel für seine Zeitung/die Leser mit. Seine Geschichte belehrt und erfreut. Leser können die Reise miterleben, erfahren Neues, und sind angeregt, über Deutschland, Europa und die Frage nach der prägenden Religion nachzudenken. So muss es sein. Nach Christopher Vogler ist das neue Gut auch immer ein Gewinn für die Gemeinschaft, in die der Held zurückkehrt.

Herr Mehlem, der Mentor

Der Beamte Rolf Mehlem, Leiter des Sachgebietes für Staatsangehörigkeitsrecht, ist neben dem Protagonisten die zentrale Figur im Text. Er ist weit mehr als ein Zitatgeber. Er zeigt sich als Verbündeter des Fremden, der Einlass begehrt. Der Autor gibt ihm Ziele, Profil und Seele. Das ist schlau. Denn, um es mit Christopher Vogler zu sagen: „Die Beziehung zwischen Held und Mentor ist eine der reichsten Quellen, aus denen Literatur und Film schöpfen können“. Der Mentor entspricht dem Archetyp des Ratgebers. Die Leser kennen ihn aus eigener Erfahrung. In Gestalt von Vater und Mutter, Lehrerin oder Volontärsbetreuer etc. begegnet er uns allen. Auf dem Grund der Zeitungsgeschichte leuchtet die Struktur des Mythos.

Noch was zur Sprache

Telsers Sprache lebt von Tugenden wie klaren, kurzen Sätzen  – „Vor dem Test bin ich aufgeregt“. Und von einfachen Worten. Exemplarisch sei  „sagen“ genannt, wunderbar konsequent im Finale eingesetzt – „Früher habe ich Italien gesagt ... manchmal haben sie auch „Buonos dias“ gesagt ... zum ersten Mal aber werde ich „Deutschland“ sagen.
Da gibt es Stilmittel wie leise Ironie – „Um Deutscher zu werden, muss man nicht einmal eine Wartenummer ziehen“ – inklusive Selbstironie „...mein Vorname ist so deutsch, dass es weh tut“. Es hat  feine Beschreibungen – „...zum Teil sind die Stapel umgekippt, zerfleddertes Papier ist aus den Mappen gerutscht und drückt gegen die Scheibe“ und dazu Deutungen – „Es ist, als könne die gegenüberliegende Behörde der Akten nicht mehr Herr werden, als würde sie von den eigenen Verordnungen erdrückt“.


Literaturtipps


Constantin Seibt: Deadline. Wie man besser schreibt. Zürich 2013
Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Frankfurt 1997
Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt 1978

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Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

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