Storytelling Februar 2014 Making-of

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„Dann kann etwas ganz Tolles passieren“

Sarah Bernhard sprach mit Miriam Scharlibbe über starke Frauen, starke Zitate und darüber, was man gewinnt, wenn man es schafft, seine Angst zu überwinden.

Miriam, war Bad Lippspringe ein Volltreffer?



Ja, auf jeden Fall. Ich hatte mir vorgenommen, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen, egal ob ich Bielefeld Mitte treffe oder einen ganz kleinen Ort auf dem Land. Ich war dann sehr positiv überrascht, weil ich in der Nähe von Bad Lippspringe aufgewachsen bin. Dennoch wusste ich: Es ist keine Metropole und ich muss mir die Geschichten vielleicht suchen.

Du hast einen Tag und eine Nacht dort verbracht, weil du auf einer Karte einen Dartpfeil darauf geworfen hattest. Was sollte das?



Die Idee der Serie war, dass die Leser in unserem Verbreitungsgebiet durch unsere Reportagen näher zusammenrücken. Bei uns liegen schon einmal hundert Kilometer zwischen den verschiedenen Lokalredaktionen und ihren Ausgaben. Durch die Reportage-Reihe sollten die Menschen im Süden unseres Verbreitungsgebietes erfahren, wie die Menschen im Norden leben und umgekehrt. Die Grundidee, bei Lesern zu übernachten, stammt von einer belgischen Tageszeitung. Das Konzept wurde dann bei uns am Newsdesk weiterentwickelt. Verantwortlich waren dafür vor allem unser Nachrichtenchef Jörg Rinne und die Kollegin Sigrun Müller-Gerbes, die das Ressort Ostwestfalen-Lippe verantwortet.

Hast du dich auf den Besuch in Bad Lippspringe vorbereitet oder es ganz auf Dich zukommen lassen?



Nur ein wenig. Ich habe vorab mit den Kollegen gesprochen, die in der benachbarten Lokalredaktion in Paderborn saßen. Letztendlich hab ich deren Informationen über den Ort aber nicht gebraucht.

Weil deine Geschichte ganz von der Begegnung mit Frau Botschen-Thombansen lebt. Wie hast du diese alte Dame denn dazu gebracht, dich bei ihr übernachten zu lassen?



Ich habe sie erst relativ spät gefragt. Wir saßen schon zwei oder drei Stunden beim Kaffee zusammen und erst, als wir uns wirklich vertraut waren, habe ich ihr erzählt, dass ich auch nach einem Schlafplatz suche. Da war es bestimmt schon 18.30 Uhr. Ich habe also alles auf eine Karte gesetzt.

Hätte es denn einen Plan B gegeben?



Nein, und das war auch Sinn der Sache. Wir sollten als Reporter unterwegs sein und nicht schon zu bestimmten Uhrzeiten auf bestimmte Interviewpartner treffen. Gerade diese Spannung und das Unbekannte waren die Herausforderungen.

Und?



Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, weil es wirklich ein ganz anderes Arbeiten ist. Und ich glaube auch, dass man als angehende Journalistin sehr viel lernt bei dieser Methode.

Was denn?



Die eigene Angst zu überwinden. Man hält sich, gerade wenn man diesen Beruf gelernt hat, für einen sehr offenen, kommunikativen Menschen. Aber ganz ohne Plan an einen Ort zu fahren und zu wissen, in 24 Stunden soll ich eine Geschichte in der Tasche haben, das ist etwas anderes. Und ich habe auch gelernt, hinter Fassaden zu schauen und mich nicht so schnell abschrecken zu lassen von Orten oder Menschen, die vielleicht auf den ersten Blick unscheinbar wirken.

Und wie fanden die Leser das Konzept?



Man hat gemerkt, dass wir im Verlauf der Serie, die über sieben Wochen lief, bekannter wurden. Bei den Kollegen standen teilweise Menschen auf der Straße, die gesagt haben: „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie kommen. Wenn Sie noch einen Schlafplatz suchen, kommen Sie doch zu mir.“

Im Vergleich zu deinen Kollegen hast du stärker gewichtet, indem du Frau Botschen-Thombansen so viel Raum gegeben hast. Absicht oder Zufall?



Absicht. Zuerst hatte ich meinen Text chronologisch geordnet, in der Reihenfolge meiner Erlebnisse. Aber dann habe ich beschlossen, wenn man so einen besonderen Menschen trifft, der einen so schnell in sein Leben und dort auch übernachten lässt, dann verdient er auch mehr Raum in den Zeilen, die gedruckt werden.

Mir gefällt der erste Absatz, weil er Leselust macht. War er von Anfang an geplant?



Mir war schnell klar, dass ich dieser Frau sehr viel Raum geben muss, und zwar am Ende, weil es keinen Sinn macht, den spannendsten Teil der Geschichte schon am Anfang komplett zu verschenken. Ich wollte aber auch nicht, dass der Leser die Zeitung weglegt, bevor er überhaupt zu meinem Lieblingsteil kommt. Deshalb kam mir die Idee, gleich zu Beginn einen Appetithappen zu liefern.

In der Mitte kommt Frau Botschen-Thombansen dann ja nochmal, sie zieht sich quasi quer durch die Geschichte.



Ich weiß nicht, ob jedem Leser gleich am Anfang klar war, dass die Frau, die ich auf der Straße getroffen habe, später noch so viel Raum bekommen würde. Aber der ein oder andere hat sich vielleicht daran weitergehangelt.

In deinem Text sind Reportageelemente, Erzählungen, deine eigene Lebensgeschichte und Fakten sehr geschickt miteinander verwoben. Hast du lange dafür gebraucht?



Das war eigentlich ein ziemlich natürlicher Prozess. Schwierig war eher, zu entscheiden, was der Leser unbedingt wissen muss - und den Rest wegzulassen.

Du selbst kommst sehr stark durch, man fühlt richtig, wie diese Frau Dich beeindruckt hat. Für eine Tageszeitung eher ungewöhnlich.



Ich hab auch zuerst versucht, mich zurückzuhalten. Aber beim ersten Anlesen der Zeilen habe ich gemerkt, dass das nicht wiedergibt, wie es wirklich war. Und als ich zugelassen habe, dass meine Persönlichkeit und meine Emotionalität mit reinkommen, hatte ich das Gefühl, dass auch Außenstehende das Geschehene viel besser nachvollziehen können.

Hast du die märchenhafte Struktur und die religiösen Symbole bewusst komponiert?



Das hat sich beim Schreiben ergeben. Im Gespräch wurde Religion sehr schnell ein zentrales Thema. Mir war wichtig, dies auch im Text zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig sollte die Reportage aber auch die Leser berühren, die keine Verbindung zur Kirche haben. Dieser Wunsch war beim Schreiben allgegenwärtig. Daraus sind dann diese teilweise symbolhaften Passagen entstanden. Wer die Bedeutung kennt, kann sie deuten, alle anderen stören die Elemente beim Lesen aber nicht. Natürlich hatte das Erlebte für mich als Autorin auch etwas sehr märchenhaftes.

 

Hast du noch Kontakt zu Frau Botschen-Thombansen?



Ja, ich war auf ihrem 90. Geburtstag eingeladen und werde mich auf jeden Fall auch weiterhin mit ihr treffen. Ich denke jeder Journalist kennt Situationen, in denen er sich darauf besinnt, warum er diesen Beruf gewählt hat und dankbar dafür ist, dass er diesen großartigen Job machen darf, und ihn Menschen in ihr Leben lassen. Für mich war die Begegnung mit Margret so ein Moment. Sie sagt, sie hat noch ganz viel zu erzählen.


Dein Text endet mit einem Zitat. Warum?

 

Weil mich das Zitat sehr beeindruckt hat und weil ich glaube, dass man dieser 90-Jährigen Dame kaum gerecht werden kann. Aber wenn, dann nur dadurch, dass ich sie mit der Geschichte aufhören lasse. Mit ihren Worten, nicht mit meinen, denn ich war schließlich nur Gast.

 

Das Zitat lautet: „Eine Frau muss sich Zeit nehmen, innerlich zu wachsen und stark zu werden wie eine Eiche.“ Bist du durch deine Erlebnisse in Bad Lippspringe gewachsen?

 

Ja, sehr. Sowohl handwerklich durch die Textarbeit, als auch persönlich durch die Begegnung mit einer Frau, die zwar weiß, dass sie viel zu erzählen hat, aber am Anfang gar nicht glaubt, dass sich jemand für ihre Geschichten interessiert. Und das Erlebnis, wie dann immer mehr Geschichten zum Vorschein kommen. Auch dadurch, eine Frau zu treffen, die ihr Leben sehr selbstverständlich sehr emanzipiert geführt hat, ohne das so benennen zu müssen. Für die Zeit, in der sie aufgewachsen ist, war das nicht selbstverständlich.

 

Hast du noch Tipps für andere Volontäre, die vor der gleichen Herausforderung stehen?

 

Ich möchte jedem Kollegen raten, offen zu sein. Auch mal etwas zu riskieren. Sich vielleicht, bevor man losgeht, ganz bewusst eine Minute Zeit zu nehmen und zu sagen: „Ich mach das jetzt und ich trau mich das jetzt und schaue, was passiert.“ Zu sagen, ich gehe um 16 Uhr mit einer alten Dame Kaffee trinken, obwohl ich gar nicht weiß, was dabei herumkommt. Denn dann kann etwas ganz Tolles passieren.

 

Interview: Sarah Bernhard

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Sarah Bernhard, geboren 1983, arbeitet als Redakteurin beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth. Ihr Schwerpunkt liegt auf gemeindeübergreifenden Recherchen, außerdem widmet sie sich dem Thema Zuwanderung. Von 2011 bis 2013 volontierte sie beim Fränkischen Tag Bamberg, Sie studierte Allgemeine Rhetorik, Politik und Philosophie in Tübingen.

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