Storytelling November 2013 Kommentar

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Gewagt und gewonnen

Wie Burkhard Bräuning aus einem Kommentar eine Erzählung, eine Liebeserklärung, einen Essay entwickelt und mit seinem mutigen Text gewaltige Resonanz erzeugt. Von Marie Lampert

Das Wagnis

Burkhard Bräuning bricht eine Konvention. Er nimmt sich eine ganze Seite für seine Meinung, seine Gefühle, seine Erinnerungen und schreibt radikal subjektiv gegen noch mehr Windräder auf seinen Hügeln. Das ist nicht der Kommentar eines Leitartiklers, der abgeklärt über den Dingen steht. Hier verlässt ein leitender Redakteur die Rolle des Beobachters. Er schreibt als Betroffener, als Bürger der Gemeinde. Er macht sich angreifbar.

Leser mitnehmen

Indem der Autor von sich erzählt, weckt er die Bilder seiner Leser. Bilder von Gängen mit Hund oder ohne, abends allein oder sonntags mit Familie, am Vogelsberg oder anderswo. Auch Leser haben Indianer gespielt, philosophische Wanderungen unternommen oder bei der Ernte geholfen. Sie kennen Zwiegespräche und Monologe in der Natur, jeder hat eine Landschaft, die ihm etwas bedeutet und deren Verlust ihn schmerzen würde. Wer keine hat, kann neidisch werden, oder wehmütig. Brigitte Seibold hat die Erinnerungslandschaft des Autors und seinen Alptraum gezeichnet.

Wandern durch die Genres

Der Einstieg hat Züge eines Kommentars. Er führt ein in die Konfliktlage, in Gemarkungsgrenzen und benennt Themen wie „Verhältnismäßigkeit“ und „Grenzen“. Mit dem Schlüsselwort „Heimat“ kommt ein weicher Ton in den Text. Der Erzähler besingt Stimmungen, Tages- und Jahreszeiten, Ausblicke und Farben. Kommt kurz zurück zur „Sache“, argumentiert mit Arbeitsplätzen, Straßenkilometern und Immobilienpreisen. Er wandert auf die Hügel zur blauen Stunde, trifft Rotmilane und mystischen Gestalten bis hin zum Nikolaus. Da ist aus dem Kommentar längst eine Liebeserklärung an die Landschaft geworden. Heimat entsteht durch Schauen, Erleben und Wiederkommen. Aus persönlichen Erinnerungen wächst ein Essay über Heimat, und entwickelt sich zum Hohelied des Staunens und der Stille.


Das Ungesagte

Burkhard Bräuning zeigt, wie man über Andacht und Schöpfung schreiben kann, ohne diese Begriffe zu verwenden. Er schreibt konkret über Moos und Lichtungen, über Rottöne und Ausblicke. An den Schluss setzt er einen Begriff mit religiöser Konnotation. Da wirkt er um so stärker: „Windräder hinter dem Ramsberg sind ein Sakrileg.“ Sakrileg? Das ist ein Vergehen gegen etwas Heiliges.

Werte aushandeln

Wenn der Autor von Spaziergängen erzählt, von der Heuernte und dem warmen Basaltstein, sagt er, was ihm wertvoll ist: Landschaft, Heimat, Schöpfung. Er setzt einen Impuls zum Aushandeln von Werten. Offenbar hat er damit den Nerv der Leser getroffen. Von deren Reaktionen spricht er im „Making of“.

Der Kognitionspsychologe Jerome Bruner hält Geschichten für „besonders brauchbare Instrumente sozialen Aushandelns“, weil sie davon erzählen, was die Dinge für die Protagonisten bedeuten. (Darüber schreibt Bruner in „Sinn, Kultur und Ich-Identität“). Aus der Resonanz der Leser kann man folgern: Geschichten in Lokalzeitungen sind besonders brauchbare Instrumente sozialen Aushandelns.

Storytelling-Check

Held, Ort und Handlung: Der Autor erforscht seine Gründe für den Widerwillen gegen noch mehr Windräder zwischen Laubach, Grünberg und Mücke und lässt die Leser an diesem Prozess teilhaben. Der Fokus liegt klar auf dem Prozess des Nachdenkens und Nachspürens, dem Klären eines Zwiespalts: Warum ich, der ich eindeutig für die Energiewende bin, keine weiteren Windräder auf meinen Hügeln will. Die Gegenspieler, Politiker und Unternehmer, bleiben Randfiguren.

Der Autor exponiert sich, seine radikale Offenheit und der Mut zum Gefühl (und sogar zum irrationalen Argument) sind die Kraftquellen seines Artikels. Plastische Landschaftsbeschreibungen und erzählende Passagen (von der Heuernte, dem Nikolaus) machen das Lesen zum Erlebnis.


Post Scriptum: Fühlorte

Burkhard Bräuning erzählt von einem Fühlort, einem Ort, an dem sich das Erleben von Landschaft verdichtet. Der Begriff stammt von einem Professor für Bau- und Siedlungswesen, dem Architekten Wilhelm Landzettel. Er schrieb über Denkmale und Fühlorte und gilt als Vater der Dorferneuerung in Deutschland. Und er war der Meinung, dass man vor der Planung neuer Projekte die Spuren von Fühlorten sichern müsse, dass man die Menschen vor Ort fragen müsse, wie sie ihre Landschaft erleben (ein Hinweis der studierten Landschaftsplanerin Brigitte Seibold).

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Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

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