Storytelling November 2013

files/drehscheibe/Themen/Interviews/Martin_Schulz_online_neu.jpg

Mit Herzblut gegen Windräder

Ein Wagnis, inhaltlich und formal: Ein leitender Redakteur schreibt sich von der Seele, warum es reicht mit den Windrädern auf dem Vogelsberg. Er erzählt sehr privat von warmen Basaltstein, der Patentante und dem Nikolaus. Fünf Spalten Meinung, Liebeserklärung und Essay inbegriffen. Die Leser belohnen den Mut des Autors mit einem gewaltigen Echo. Aus der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 6. Juli 2013.

Wo Windräder stehen, kann der Nikolaus nicht landen

(verätselte Überschrift)


Ein (emotionales) Plädoyer für erneuerbare Energien, aber gegen einen Windpark zwischen Laubach, Grünberg und Mücke (Der Autor bezieht einen klaren Standpunkt.)

Von Burkhard Bräuning

Ich sage es gleich vorweg, denn es ist die immer gleiche Frage, die sich derjenige anhören muss, der auch nur ein kritisches Wort gegen Windkraftanlagen sagt: Nein, ich möchte nicht neben einem Atomkraftwerk wohnen (Der Autor nimmt einen Einwand vorweg). Ich habe auch nichts gegen Windräder. Erneuerbare Energien haben Zukunft, ganz sicher. Aber es muss Grenzen geben, nicht auf jedem Hügel darf eine Windmühle installiert werden. In Hessen gibt es rund 90 Windparks, ein Viertel davon wurde im Vogelsbergkreis errichtet. Von den insgesamt rund 600 Windrädern stehen laut Wikipedia 180 im VB-Kreis, das sind 30 Prozent aller Mühlen (Argument 1). Viele wurden auf den Westhängen des Vulkangebirges errichtet. Wir im Seenbachtal haben sie direkt vor Augen. Manchmal, tagsüber, nimmt man sie gar nicht recht wahr. Aber schlimm ist es abends und nachts, wenn die roten Warnlichter angehen. Fährt man zum Beispiel von Gießen kommend auf der B 49 Richtung Grünberg, dann hat man kurz vor der schönen Kleinstadt den Eindruck, als nähere man sich der innerkoreanischen Grenze (drastischer und anschaulicher Vergleich). Der gesamte Vogelsberg blinkt! Schön ist das nicht, eher gespenstisch, unheimlich.

Neue Einnahmequellen

Nun also, so war schon mehrfach in dieser Zeitung zu lesen, wollen auch Laubach und Grünberg ihren Beitrag für eine Energiewende leisten. Die Gemarkungsgrenzen von beiden Städten stoßen im Osten an den Vogelsbergkreis (Die Karte war schon in einer früheren Ausgabe der Zeitung abgedruckt). Die Laubacher Stadtteile Altenhain und Freienseen und die zu Grünberg gehörenden Dörfer Lardenbach, Klein-Eichen, Weickartshain und Stockhausen sind Vogelsberggebiet, auch wenn die Autofahrer dort GI auf ihrem Autokennzeichen haben. Die Parlamente in Grünberg und Laubach sind für das Projekt, die Bürgermeister auch. Die Städte sind klamm, sie brauchen das Geld. Ich habe Verständnis dafür, dass sie sich nach neuen Einnahmequellen umschauen. Dass die OVAG (Oberhessische Versorgungsbetriebe Aktiengesellschaft) investiert – eine nachvollziehbare und sicher aus betriebswirtschaftlicher Sicht richtige Entscheidung.

Wald wird plattgemacht

Aber viele Menschen im Seenbachtal haben starke Bedenken. Besonders in Weickartshain frischt der „Gegenwind“ auf. Manche Bürger befürchten unter anderem, dass ihre Immobilien an Wert verlieren. Ich habe ein ganz anderes, aber ein nicht minder egoistisches Argument gegen die Windkraftanlagen auf den vorgesehenen Flächen: Mir und vielen anderen Menschen wird ein Stück Heimat genommen (Argument 2).

Den Wald zwischen Stockhausen, Weickartshain, Lauter und Laubach kenne ich in- und auswendig. Ich habe ihn morgens, mittags, abends und auch nachts durchstreift, im Sommer, im Herbst und im Winter (Die Aufzählung verlangsamt und rhythmisiert den Text. Poesie kommt ins Spiel). Im Frühjahr ist es dort besonders schön. Es gab eine Zeit, da bin ich täglich auf den Hügel nördlich von Weickartshain gestiegen. Immer abends. Mit unserem Hund. Auf dem gesamten Plateau hat man einen wunderbaren Blick auf Vogelsberg, Ohmtal und Wetterau. Und man schaut auf die bewaldeten Hügel, die auch meine Stadtväter gerne als Standorte für Windräder hergeben möchten. Ich wurde nicht gefragt, ob ich das möchte. Warum auch. Ich bin nicht wichtig (der Autor als Stellvertreter der Leser). Aber was ich mir wünsche: Dass die Politiker uns die ganze Wahrheit sagen. Ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber vielleicht fehlt ihnen ein bisschen die Vorstellungskraft, um zu beurteilen, welches Bild sich den Seenbachtalbewohnern künftig bietet, wenn der Windpark kommt. Der Wald wird plattgemacht. Die abgeholzte Fläche soll später zur Hälfte wieder aufgeforstet werden, aber viele Jahre würden wir „im Ernstfall“ auf riesige Kahlschlagflächen schauen.

Provinz westlicher Vogelsberg

Ich weiß, man muss Opfer bringen, zumal für eine solch gute Sache wie die Windkraft. Wir im Seenbachtal und im Vogelsberg bringen aber schon viele Opfer (Argument 3). Wir fahren täglich 30, 50, ja bis zu hundert Kilometer zu unseren Arbeitsplätzen, weil es nicht sehr viele Stellen gibt im engeren Umkreis. Wir sorgen dafür, dass der westliche Vogelsberg nicht schon jetzt entvölkert ist. Wir sind weit vom (urbanen) Leben entfernt, dort, wo die Musik spielt. Die Immobilienpreise sind tatsächlich im Keller. Unsere Kinder wachsen behütet auf, aber sie klagen, wenn sie größer werden, über Langeweile: „Hier ist nichts los.“ Und wir schauen schon jetzt auf Dutzende Windräder. Wenn die Sonne im Osten aufgeht, dann tut sie das zu jeder Jahreszeit hinter diesen modernen Mühlen. Wir wollen sie wenigstens weiter hinter Bäumen untergehen sehen (archaisches Bild versus moderne Technik). Was wir haben an Kombination Technik und Natur, das reicht mir – und vielen anderen Menschen auch. Man sagt uns zwar nicht, wo genau die Räder einmal stehen sollen und wie viel Wald fallen wird. Politiker aus der Kernstadt sind der ganzen Wahrheit aber näher als wir im Seenbachtal. Weil es ja „ihr“ Wald ist. Unsere Gemarkung ist nicht betroffen, aber wir sind verdammt nah dran, näher als die Kernstadt. Uns in Stockhausen und Weickartshain werden aber offensichtlich Infos vorenthalten, dabei haben wir die Mühlen vor der Nase. Immer vorausgesetzt, dass die Pläne der Stadtväter wahr werden: Die Grünberger werden von den Windrädern nicht viel zu sehen bekommen. Nur die hinter der Theo-Koch-Schule (TKS), aber da kommt man ja – wenn überhaupt – nur kurz hin, um die Kinder abzuholen.

Im Auenland

Jetzt, vor den Sommerferien, packen viele Eltern an der TKS ihre Kinder ins Auto und düsen mit ihnen ab in den Urlaub – in die Alpen, an die Ost- oder Nordsee, nach Spanien, Frankreich, Italien. Wo man so hinfährt. Oder sie fliegen auf die Malediven, in die USA oder nach Südafrika. Irgendwohin, wo es schön ist. Auf meinem Berg ist es auch schön. Stehe ich abends zur blauen Stunde dort, dann fühle ich mich zurückversetzt in frühere Zeiten. Ich schaue über das Tal südwestlich von Weickartshain. Es ist ein Idyll. Dabei sehe ich übrigens Rotmilane am Himmel – Gabelweihen, wie wir sie auch nennen. Muss ein Trugbild sein, denn die Raubvögel gibt’s da ja seit ein paar Wochen nicht mehr. Sagt man uns. Sind offenbar alle auf Kommando tot vom Himmel gefallen. Aber das nur so nebenbei (Polemik). Links und rechts des Tales breiten sich die bewaldeten Berge aus, auf denen nun die Windräder platziert werden sollen. Das dritte Feld liegt hinter Stockhausen. Aber da sind ja »nur« vier Mühlen vorgesehen. Kaum der Rede wert also. Außerdem gaaanz weit weg vom Dorf. Die Windräder stehen dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. Wen also interessiert’s? Mich interessiert’s – und andere auch. Der Flecken hat etwas Mystisches (Argument 4), erinnert ein bisschen an das Auenland der Hobbits. Er beflügelt die Phantasie. Wenn man dort die Wege verlässt, dann kann alles passieren. Auch das: Westlich der Fischteiche haben wir vor zweieinhalb Jahren den Weihnachtsmann getroffen. Er kam aus dem Wald. Ganz plötzlich. Mit einem Schlitten. Und er hatte Geschenke dabei, kleine Gaben für unsere Kinder. Dann stapfte er weiter durch den Schnee in Richtung Mücke. Wir waren ein Dutzend Menschen, keiner von uns wird diesen 6. Dezember jemals vergessen. Wenn dort 200 Meter hohe Windräder gebaut werden, wird er nicht mehr landen können, der Nikolaus.

Früher im Vogelsberg

Durch diesen Wald sind wir als Kinder gestreift, kannten dort (fast) jeden Baum, jeden Waldweg sowieso. Wir lagen unter Bäumen im Moos und auf Lichtungen im hohen Gras, schauten auf die Wolken über uns. Wir träumten uns in ferne Welten, schmiedeten Pläne. Ich will nicht, dass dort Windräder stehen (einfacher, fast kindlicher Duktus). Weiter oben, am „Hölzchen“, haben wir in den 1960er Jahren Heu gemacht. Noch mit dem Holzrechen wurde das Gras gewendet. Ein Blick zum Vogelsberg entschädigte für die Plackerei bei brütender Hitze. Wir pflückten Himbeeren am Waldesrand, spielten in den Büschen Cowboy und Indianer. Bei einem schweren Gewitter flüchteten wir unter den Heuwagen. Nur meine Gote (Dialekt für „Patin“) Miele stand oben auf dem Wagen, blickte mit ernster Miene zum Himmel und trotzte Blitz und Donner. Geht man vom „Hölzchen“ weiter in Richtung Süden, erreicht man bald den erwähnten Berg nahe Weickartshain, den manche Alten „Koppelhut“, andere „Hohe Stube“ nennen. Hunderte Male habe ich diesen Moment erlebt: Ich überschreite den Bergkamm, bleibe stehen, schaue in die Ferne – und staune. Im Südwesten erkennt man bei guter Sicht schnell die Münzenburg, und dahinter erhebt sich majestätisch der Große Feldberg. Wer hier einen Moment verharrt, der sieht nur wenig von den Autobahnen und Straßen, von Dörfern und Städten. Nur die Überlandleitungen stören etwas. Aber Strom will ich ja auch.

Schweigen und staunen

Ich fühle mich dort oben, als wäre ich in eine andere Zeit gereist. Nur Landschaft, die Reste einer Burg – und als passende Geräuschkulisse das Glockengeläut der Weickartshainer Kirche. Ich sehe viel Wald auf sanften Hügeln. Auf denen nun bald Windräder stehen sollen. Manchmal habe ich (enge) Freunde mit hinauf genommen. Wir haben uns auf den Boden gesetzt und geschwiegen, waren beeindruckt von dem Panorama (Argument 5). Meist war ich aber ganz alleine auf meinem Berg. Ab und zu kamen Wandergruppen vorbei. Auch Reinhold, ein sehr naturverbundener Landwirt aus dem Dorf, gönnt sich zur Feierabendstunde manchmal diesen Blick, diese blaue Stunden zwischen Tag und Nacht. Hier oben wächst an manchen Stellen der Basalt aus dem Boden. Wenn es ein heißer Tag war, dann ist der Fels noch warm (schön sinnlich). Ich setze mich darauf, schaue, entspanne mich und spüre: Das ist Heimat! Das alles gehört dazu: Der Wald, die Wiesen und Äcker, der Blick über die Wetterau, die Kindheitserinnerungen, die Heuernte, das Spiel und das Zusammentreffen mit dem Nikolaus. Windräder passen nicht dazu. Sie zerstören das Bild.

Farben der Heimat

Die Verantwortlichen, die Vorrangflächen für Windparks ausgewiesen haben, waren sicher schon mal dort oben. Denn sie haben dieses Gebiet nicht in ihre Planung einbezogen. Einige Unternehmen und Politiker der beiden Städte möchten trotzdem gerne bauen. Diese Frauen und Männer waren sicher noch niemals auf „meinem“ Berg. Ich lade sie ein, mit mir hinaufzugehen: die Bürgermeister, die Stadtverordneten, die Ortsbeiräte. Um dort mit mir zu schweigen. Einfach mal nichts sagen. Nur den Roten Milan bestaunen, der über dem Wald seine Kreise zieht (der Milan zum Zweiten, da er doch nicht tot vom Himmel gefallen ist). Der Sonne beim Untergehen zuschauen. Der Himmel über dem Wald und dem kleinen Tal hat übrigens jeden Abend eine andere Färbung. „Es gibt Milliarden Farben, und jede ist ein eigenes Rot“, singt Grönemeyer. Hört sich verquer an, aber irgendwie hat er recht. Nie das gleiche Abendrot, nie das gleiche Grau, immer ein neues Gelb. Sie glauben mir nicht? Dann gehen sie doch mal einen Monat lang jeden Abend auf diesen Berg. Das dürfte reichen, um Sie zu überzeugen. Danach werden auch Sie Nein sagen zu den Windrädern – und wissen, dass es Milliarden Farben (Argument 6) gibt. Sie werden – wie ich – zwar noch immer denken: Windkraft ist gut. Aber nicht überall muss ein Windrad stehen. Ich weiß, es ist vermessen von mir, das zu fordern. Aber viele wissen auch nicht, was ich weiß: Das ist der beste Platz, den wir zwischen Mücke und Laubach haben.

Rundum Mühlen

Kommen die Windräder, dann hat der Hügel jeden Reiz verloren. Er ist dann nur noch ein Ort, an dem mir rundum Windräder die Sicht auf die Natur verstellen. Im Norden sieht man schon jetzt die Mühlen bei Atzenhain, im Osten drehen sich die Räder an den Hängen des westlichen Vogelsberges, und im Süden und Westen schaut man dann auf den neuen Windpark. Ich bin sicher, dass viele Menschen im Seenbachtal und in Laubach auch so einen Ort der Stille auf einem Berg haben. An dem sie spüren, dass sie hier zu Hause sind. Und dort stehen sie dann vielleicht wie ich und schauen in die Ferne. Vielleicht fühlen sie auch so wie ich. Wenn es so ist, dann sollten sie laut sagen, was sie denken.

Ein magischer Ort

Meine Meinung (Der verzauberte Bürger kehrt zurück in die Rolle des Leitartiklers): Windräder hinter dem Ramsberg sind ein Sakrileg. Windmühlen nahe dem „Hölzchen“ zerstören einen magischen, einen traumhaft schönen Ort. Mag sein, dass Laubach das Geld braucht. Es muss andere Quellen geben. Beide Städte werden nicht reich mit den Mühlen. Aber wir alle verlieren ganz viel. Vor allem ein wunderbares Stück Heimat. An die roten Warnlichter im Vogelsberg werde ich mich (vielleicht) gewöhnen. An einen Windpark Laubach/Grünberg sicher nicht.





Wir danken Burkhard Bräuning und der Gießener Allgemeinen für das kostenfreie Überlassen der Rechte.


 

Die kursivierten Kommentare stammen von Marie Lampert, die den Werkraum Storytelling der ABZV betreut.

 

files/drehscheibe/Themen/Interviews/Martin_Schulz_online_neu.jpg

Burkhard Bräuning, Jahrgang 1957, stellvertretender Chefredakteur bei der Gießener Allgemeinen Zeitung, verheiratet, drei Töchter. Von Hause aus Nachrichtenredakteur im Mantelteil. Als dreifacher Vater aber auch im Dauereinsatz, wenn es um das Erzählen von Geschichten geht. Schottland- und  Single-Malt-Fan. Wandert gerne im Vogelsberg und knipst dabei die urige Landschaft

Kommentare

Kommentieren

Bei den mit Sternchen (*) markierten Feldern handelt es sich um Pflichtfelder.