Storytelling September 2013 Kommentar

files/drehscheibe/Themen/Interviews/Martin_Schulz_online_neu.jpg

Gespür für Liebhaber

Stephan Onnen zeigt jede Menge Handwerk und eine stille Tugend: das Weglassen-Können. Eine Analyse von Marie Lampert.

Ein Leitmotiv als roter Faden


Stephan Onnen grundiert seine Geschichte mit dem Motiv des Schicksals, des Nicht-Zufälligen. Er steigt ein: „Nein, an Zufälle glaubt Cathrin Eßbach nicht. Irgendwie scheinen sich im Leben alle Puzzleteile zu einem großen Ganzen zu fügen.“ Jetzt möchte man natürlich wissen, wie sich die Puzzleteile im Lebens von Cathrin Eßbach zusammenfügen. Onnen führt das Motiv weiter und variiert dabei die Begriffe „Zufall“, „Schicksal“ und „Puzzleteil“. Brigitte Seibold zeigt das in ihrer Illustration,
Mit dem Schicksals-Motiv schafft Onnen eine Ebene, auf der die Leser mitdenken und -fühlen können. Das Deuten des eigenen Lebens, das Einordnen von Ereignissen als Glück, als Pech, als Zufall – das beschäftigt uns alle, nicht nur Häusle- oder Mühlenbauer. Gibt es das, einen großen Zusammenhang?


Die Story als Resonanzraum


Auf der Folie der Mühlen-Geschichte läuft der Lebensfilm der Leser mit. Unwillkürlich fragt man sich: Was ist mit meinen Träumen von einem besonderen, ungewöhnlichen Leben? Wann habe ich etwas Verrücktes gemacht, wo bin meinem Herzen gefolgt, oder dem Ruf des Abenteuers? Wollte ich so exotisch wohnen, könnte ich so leben mit Eisblumen und einer tropfenden Wand? Über die lokale Relevanz hinaus erzählt der Artikel von einer Haltung zum Leben. Er stellt das Besondere vor, und das Allgemeine zur Diskussion.

Der Fokus, das Weglassen


Zwei Menschen folgen ihrem Traum und räumen dabei Hindernisse aus dem Weg. Stephan Onnen erzählt die Geschichte von der Liebe eines Paares zu ihrer Mühle stringent und klar. Was nicht dazugehört, lässt er weg. Klingt simpel, ist es aber nicht. Onnen lässt weg, wie die beiden sich kennenlernten. Er erzählt nichts über Kaufverhandlungen, Bankkredite, Umzug und Einzug. Er schweigt über die Zahl der Zimmer, Quadratmeter oder die Raumhöhe. Kein Wort über die Energieeffizienz des Eisblumen-Raums oder die Auflagen des Amts für Denkmalpflege. Allein die Geschichte der Mühle darf mit, und das nur im Kasten.


Schillernde Hauptfiguren

Cathrin Eßbach und Jan Lange sind ein ungewöhnliches Paar. Sie Akademikerin, er Handwerker, sie Wessi, er Ossi, er 13 Jahre jünger als sie. Er, der Bäcker mit Dachdecker-Erfahrung und sie, die Architektin, sind fasziniert vom Müllerhandwerk, von der Mühle. Sie sind begeisterte Heimwerker und dabei einig über den Stellenwert ihres Herzensprojekts: Sie werden sich nicht zu seinem Sklaven machen. Der Autor beschreibt seine Figuren über Zitate und Handlungen. Er kommt ohne Etiketten aus. Nirgends stehen Begriffe wie „alternativ leben“ und „Individualisten“.


Lokal relevant

Spätestens ab jetzt werden die Leser der Nordwest-Zeitung die Augen aufhalten, wenn sie die Niedersächsische Mühlenstraße entlangfahren: Wo ist sie denn, die  Holler Mühle? Und wenn sie das Behelfsdach, die Ersatzkappe sehen, wissen sie bereits, was da los ist.
Möglicherweise können sie auch mit dem Namen „Cathrin Eßbach“ etwas anfangen, der Betreiberin des „Penthouse-Backpackers“ Hostels in Osnabrück.


Extra-sinnliche Details

Wenige Details genügen, um der Mühle Charakter zu verleihen. Im Winter wachsen Eisblumen an den Fenstern. Gelegentlich tropft Wasser aus der Wand. Diese sinnlichen Eindrücke vermittelt Stephan Onnen über Aussprüche seiner Protagonisten. Sie gehen über das Sehen und Hören hinaus: Der kalte Hauch, den die „Eisblume“ auslöst, spricht den Temperatursinn an, die Thermorezeption. Die Schmerzempfindung kommt ins Spiel, wenn die Müllerslehrlinge sich in der Mühlenkappe – im Dach der Mühle –  die Köpfe stoßen. Die Körperempfindung oder Propriozeption wird der Mühle selbst zugesprochen, sie „atmet auf“, als sie von der Styropor-Dämmung befreit wird. Merke: Es gibt  noch weitere Sinne neben den klassischen fünf. Ihr Einsatz im Text bewirkt, dass Leser die Mühle als lebenden Organismus spüren und die Leidenschaft der Müllersleut sinnlich erleben.

Leser führen und verführen

Die beiden Fotos signalisieren: Hier wird die Geschichte einer Wandlung erzählt, es geht um ein Vorher-Nachher. Die Mühle alt – um 1960  im Sepia-Kasten – die Mühle neu – in Farbe mit Familienidyll. Das bunte Foto wirbt mit sympathischen Figuren und baut subtile Spannung auf. „Entspannt im Sand“, heißt es in der Bildunterschrift. Man ahnt: Das kann nicht alles sein. Hinter den Liegestühlen, im Gemäuer der Mühle, lauert Knochenarbeit.


Story-Check

Die Mühle erlebt ein Vorher-Nachher, die Protagonisten erleben es auch. Ihr Weg führt über den Müller-Freizeit-Kurs zur eigenen Mühle. Der Weg ist gekennzeichnet durch Schlüsselszenen – Liebe auf den ersten Blick, Entscheidungen – Kaufen  und Hindernisse wie das drohende Absacken des Gebäudes. Genau das sind Charakteristika einer Story. Ein Vorher (Anfang), ein Nachher (Ende) und eine Mitte, die vom Zusammenhang dazwischen erzählt.

 

files/drehscheibe/Themen/Interviews/Martin_Schulz_online_neu.jpg

Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

files/drehscheibe/Themen/Interviews/Martin_Schulz_online_neu.jpg

Brigitte Seibold, Diplom-Ingenieurin und Erwachsenenpädagogin, arbeitet als selbständige Trainerin, Beraterin und Prozessbegleiterin. Sie ist darauf spezialisiert, das Potenzial von Visualisierung in der Arbeit mit Menschen und Organisationen zu nutzen. www.prozessbilder.de

Kommentare

Kommentieren

Bei den mit Sternchen (*) markierten Feldern handelt es sich um Pflichtfelder.